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Wo ich wohne – Ein Film für Ilse Aichinger

Poetisch-reduzierte Annäherung an das Werk einer großen Literatin

Ilse Aichinger ist eine Ausnahmegestalt. Die Wienerin, die vor kurzem ihren 93. Geburtstag gefeiert hat, gehört zu den bekanntesten deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts, und sie ist Teil des immer kleiner werdenden Kreises von Zeitzeugen, die die Barbarei des Nationalsozialismus selbst bewußt erlebt haben und darüber berichten können.

Dennoch ist der Film alles andere als ein informatives dokumentarisches Porträt der Schriftstellerin. Regisseurin Christine Nagel wollte ganz bewußt keinen Film über, sondern für Ilse Aichinger machen, und tatsächlich gelingt es ihr in den gut 80 Minuten Spielzeit, durch Aichingers Person gewissermaßen hindurchzuschauen und sich ganz auf ihr Werk einzulassen. Diese Geschichten eint, daß sich in ihnen das 20. Jahrhundert – vielfach gebrochen – immer wieder spiegelt. Gleichzeitig ist in jedem der Texte ihr Versuch, die Sprache selbst auf das Wesentliche zu reduzieren, fast mit Händen zu greifen. Sie habe schon seit frühester Jugend am liebsten hinter den Wörtern verschwinden wollen und allen Ehrgeiz daran gesetzt, gar da zu sein.

Bei so viel Existentialismus tut es gut, daß es Aichingers eigene Stimme ist, die die Zuschauer durch diesen ungewöhnlichen Film führt. Christine Nagel gebraucht dafür aktuelle Aufnahmen von Gesprächen, die sie in den letzten Jahren mit Aichinger geführt hat, kombiniert aber auch Archivmaterial wie alte TV-Beiträge, Interviews und Briefe der Schriftstellerin und sogar nie vorher gesehene private Super-8-Filme, die die Kinoliebhaberin Aichinger in den 70ern selbst drehte. Auf diese Weise begegnet sich die Literatin im Film immer wieder selbst. Potenziert wird dieser Effekt noch dadurch, daß nach und nach diverse, teils autobiographische Figuren aus Aichingers Geschichten beginnen, den Film zu bevölkern. Gedreht mit kargen, aber gestochen scharfen Digitalbildern, ergänzen diese Inserts den in die Vergangenheit gewandten Blick mit Bildern des heutigen Wiens, durch das Aichinger bis ins hohe Alter fast täglich spazierte.

Gerade durch diese Dopplung gelingt es, nicht mehr die Person Ilse Aichinger, sondern ihr Werk zu fokussieren und den Zuschauer damit auf sinnliche Weise zu verführen, sich auf ihre einzigartige Prosa und Lyrik einzulassen.

Österreich 2013, 81 min
FSK 0
Verleih: Film Kino Text

Genre: Dokumentation, Biographie

Regie: Christine Nagel

Kinostart: 22.01.15

[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.