Originaltitel: DEUX JOURS, UNE NUIT

Belgien/F/I 2014, 95 min
FSK 6
Verleih: Alamode

Genre: Drama

Darsteller: Marion Cotillard, Fabrizio Rongione, Christelle Cornil, Simon Caudry

Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne

Kinostart: 30.10.14

1 Bewertung

Zwei Tage, eine Nacht

Wo bleibt die Würde beim Spießrutenlauf?

Selten, wirklich selten bislang war ein Leinwandlächeln wichtiger und wuchtiger als in diesem Film. Wenn es Sandra und ihrem Mann Manu gelingt, fährt es noch einmal besonders unter die Haut. Dorthin, wo schon die anderen eineinhalb Stunden von ZWEI TAGE, EINE NACHT ruhen und langzeitwirken. Das neue Kinostück der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne wird in diesen Tagen und Wochen, da man sich bereits an erste Jahresbestenlisten wagt, weit nach oben gehören.

Sandra ist unten. Am Boden zerstört, doch noch nicht geschlagen. Eine winzige, fast aberwitzige Möglichkeit bleibt, um ihren Job in einer Solarfabrik zu retten: Am Montag wird es eine neue Abstimmung unter 16 Angestellten geben. Sie wird entscheiden, ob Sandra bleiben kann, was gleichsam bedeutet, daß die anderen auf ihre Bonuszahlung von 1000 Euro verzichten. Geld gegen Gewissen. Heute, am Freitag, ging das Votum gegen Sandra aus, doch der Chef kann von einer Wiederholung überzeugt werden. Der Vorwurf, sein Vorarbeiter habe die Belegschaft beeinflußt, wäre ein zu lästiger Fleck auf seiner Weste.

48 Stunden bleiben. Ein ganzes Wochenende für einen Spießrutenlauf. Sandra versucht in dieser Zeit, alle Kollegen zu erreichen, sie anzurufen oder sich mit ihnen zu treffen, versucht verzweifelt und von nackter Angst getrieben alles, um sie umzustimmen oder sich ihrer Unterstützung neu zu vergewissern, ringt der Würdelosigkeit dieser „Chance“ das letzte Quentchen Würde ab. Für sich selbst, für Manu, ihre zwei Kinder – die Zukunft.

Mal klingelt sie wie eine Zeugin Jehovas an den fremden Türen, mal zitternd vor Scham. Mal lassen sie Selbstzweifel fast aufgeben, mal helfen die Tabletten wirklich, die sie nimmt. Der Ehemann stützt seine Frau, so gut er eben kann und die Liebe es vermag. Ihm gehört ein wirklich großer Dialog-Moment dieses Films, denn als das Unvermeidliche geschieht, und der Druck auf Sandra den Alltag mit Manu unterminiert, wird er Größe zeigen. „Weißt Du“, fragt Sandra voller Traurigkeit, „daß wir seit Monaten nicht mehr miteinander geschlafen haben?“ „Ja“, antwortet Manu, „aber ich weiß, daß wir es bald wieder tun.“

ZWEI TAGE, EINE NACHT wird unterschwellig von trügerischer Spannung getrieben. Hinter jedem Kontakt Sandras zu einer Frau oder einem Mann aus ihrem Betrieb steht eine eigene angerissene Lebensgeschichte, die stets mehr ist, als das Dafür oder Dagegen auf dem Stimmzettel aussagen können. Es kommt zu kalten Enttäuschungen und warmen Momenten, zu Einsicht und Zuversicht, es gibt Handgreiflichkeiten und Unbegreiflichkeiten.

Die bewährte Inszenierungskunst der Brüder Dardenne vermeidet jeden noch im Ansatz falschen Ton. Marion Cotillard reicht die entwaffnende Ehrlichkeit und innere Kraft ihrer Figur mit überwältigend starkem Spiel an die kleinste Nebenrolle weiter. ZWEI TAGE, EINE NACHT ist in keiner Sekunde plumpe Kapitalismuskritik, hier fällt das Kino als Ort der Kunst nicht auf das Niveau billiger Agitation und Propaganda zurück und auch nicht ins tiefe Jammertal einer als Prekariat titulierten Masse.

Das hier ist Menschenkino voller Zuwendung und Genauigkeit. Es ist zugleich Weltkino, denn sein Geist ist so universell wie der Ort, an dem es spielen könnte.

[ Andreas Körner ]