„Amphetamine”

Vom Geist der Beatniks, schwer geprüften Brüdern und schönen Jungs mit Engelsflügeln

Ein Rückblick auf die 60. Berlinale

[ 23.02.2010 ] Als Festivalchef Wolf Donner 1978 ankündigte, die Berlinale in den Winter zu verlegen, waren die Gesichter lang. Regelrechte Verzweiflung veranlaßte eine Journalistenkollegin zur Klage, daß man doch dann nicht mehr so hübsch im Sonnenschein flanieren könne. Darauf entgegnete Donner ungerührt, daß die Leute gefälligst ins Kino zu gehen haben. Flanieren ... tststs. Na ja, in diesem Jahr fiel das winterliche Spazieren sowieso aus, ins Kino aber kam man zu Beginn der Jubiläumsausgabe auch kaum, da in der Berliner Stadtverwaltung noch größere Waschlappen als in der Leipziger hocken – will sagen, daß man sich dort spät bequemte, das Festivalzentrum um den Potsdamer Platz halbwegs schrittfest zu machen und entsprechend vom Eise zu befreien. Quasi in letzter Minute gingen dann doch Kommandos mit schwerem Geschütz ans Werk. Sie rückten dem fiesen Gemisch aus Eis, Schnee und Autoruß zu Leibe – mit Bohrmaschine und Preßlufthammer. Jedoch erinnerten dann die aufgeschütteten Halden aus grau-schmutzigen Eisplatten teilweise an das rumänische Hinterland ... Schon ein bißchen peinlich für ein internationales Festival und Schande pur für die Hauptstadt: Arm ist schon okay, aber sexy sieht nun wirklich anders aus ...

Egal, wer es mit einiger Körperbeherrschung doch ins Kino schaffte, wurde belohnt – mit guten Filmen. Dazu gehört definitiv auch HOWL, der erste Spielfilm der Dokfilmer Rob Epstein und Jeffrey Friedman. Dabei gab sich der Mix aus nachgespielten Interviewszenen, animierten Sequenzen und einem recht konservativ inszenierten Gerichtsprozeß anfangs ein wenig störrisch, doch im Verlauf des Films entpuppt sich genau diese Melange als die in den Mitteln perfekte. Es geht um den Schriftsteller Allen Ginsberg, eine Anklage wegen der obszönen Sprache seines dann zum Erfolg prozessierten Gedichts „Howl“ steht im Fokus. Der gleichnamige Film nun ist vieles, zum Beispiel ein stimmiges Gesellschaftsporträt, das einerseits die erzkonservative Fratze des 50er-Jahre-Amerikas zeigt und andererseits die Bedeutung der Beatniks für eine liberalere Gesellschaft ins richtige Licht rückt. Außerdem bringt HOWL Ginsberg selbst näher, als einen nach Startschwierigkeiten leidenschaftlich liebenden Mann, der sich hingezogen fühlte zu Jack Kerouac, und wir hören, wie Ginsberg zeitlebens am frühen Tod der nervenkranken Mutter litt. Den Film allerdings krallt sich sein Hauptdarsteller: Einfach verblüffend, wie James Franco in die Figur schlüpft, wie er als Ginsberg dessen Gedichte kraftvoll rezitiert – und dazu passen die anspruchsvoll animierten Szenen einfach perfekt. Es sollte mit dem Teufel zugehen, wenn sich für HOWL kein Verleih begeistern ließe ...

Wünschenswert wäre dies auch für einen ganz anderen Film: BEAUTIFUL DARLING ist ein spannendes Zeitdokument über die vielleicht populärste und schillerndste Figur aus Warhols Entourage, Candy Darling. Und beautiful war die transsexuelle Kunstfigur auf jeden Fall, zahlreiche Elogen wurden auf sie gesungen, die berühmteste wohl von Lou Reed („Walk On The Wild Side“). James Rasin verbindet verschrammte Interviewfetzen, Fotokollagen und Aussagen berühmter Wegbegleiter (u.a. Paul Morrissey, John Waters) zu einem kurzweiligen Mosaik. Candy Darling wollte ein richtiger, weiblicher Moviestar werden – Auslöser für derartige Begierde war Kim Novak. Ein paar anständige (B-)Movies sind es dann auch geworden, richtig sauer war Candy indes, als Warhol sie in HEAT nicht besetzte. BEAUTIFUL DARLING erzählt von einem zu kurzen Leben: James Slattery, so Candys bürgerlicher Name, starb bereits mit 29 an einer Krebserkrankung. Da Candy aber auch ihr Leid zu inszenieren wußte, ist das beeindruckende Ergebnis einer Fotosession am Krankenbett auch auf dem „I Am A Bird Now“-Album von Anthony & The Johnsons zu bestaunen.

Es waren ganz allgemein traurige Geschichten, die im diesjährigen Programm die Oberhand hatten. Das muß nicht depressiver als nötig stimmen, immerhin werden so die dunklen Seiten des Lebens offen thematisiert – quasi der erste Schritt zur Linderung. Und eine auffallende Paareskonstellation war die von Brüdern. Dazu gehört auch SUBMARINO von Thomas Vinterberg. Hier sind wirklich alle kaputt! Aufhänger ist eine Brüdergeschichte, die so liebevoll begann – in einem gar nicht liebevollen Umfeld. Nick und sein jüngerer Bruder leben mit der trinkenden Mutter in einem regelrechten Saustall. Die Kinder kümmern sich um das frisch geborene Geschwisterchen. Sie sind überfordert, das Baby stirbt. Auftakt zu gleich mehreren verpfuschten Leben ...

Manchmal möchte man einfach nur Luft holen, durchatmen und inständig daran glauben, daß es eben so viel Elend gar nicht geben kann. Doch, kann es! Vinterbergs Geschichte ist ein durchaus glaubwürdiger, ein in vielen Momenten kaum auszuhaltender Trip durch eine Welt aus Drogen, Vergewaltigung, Suizid, Mord und Alkoholsucht. Hinsehen aber sollte man auf jeden Fall, sonst verpaßt man ein echtes Kunststück in seinen berückend ausgebluteten Farben. Irgendwann müssen die Katastrophen ein Ende nehmen, und vielleicht ist die Annäherung zwischen Nick und seinem Neffen Martin ein Anfang ...

Auch Frankreichs Ausnahmeregisseur François Ozon erzählt am Rande von zwei Brüdern in LE REFUGE, der im Rahmen der traditionellen AG Kino-Gilde-Screenings lief, die kein offizieller, aber für die Branche durchaus unverzichtbarer Teil des Festivals sind. Der Einstieg hat so etwas Beruhigendes, die nächtliche Seine spiegelt sich in den Pariser Altbaufenstern, und doch geschieht dahinter Beunruhigendes. Louis und Mousse sind drogenabhängig, zwei junge Menschen schleppen sich von Schuß zu Schuß, bis Louis den einen zu viel nicht überlebt. Mousse kommt von der Droge los, sie startet ein Methadonprogramm, weil sie irgendwie leben will, gemeinsam mit dem Baby in ihrem Bauch. Das ist der Prolog zu Ozons neuestem Film, der sich in der Koloratur seinen traurigen Werken UNTER DEM SAND und DIE ZEIT DIE BLEIBT an die Seite stellt. Er entführt uns aus dem Großstadtgrau an einen lichtstarken Strand, hier kriegt Mousse Besuch von Louis’ schwulem Bruder. Eine gut beobachtete, manchmal von jeder Ratio losgelöste, immer neugierige Liason nimmt ihren Anfang. Ein starker Film von einem in letzter Zeit zu Unrecht gescholtenen Regisseur.

Zwei Brüder stehen auch im Zentrum des vielleicht vergnüglichsten Beitrags der diesjährigen Festivalausgabe: Ferzan Ozpetek ist verantwortlich für das MINE VAGANTI, das eine Familiensaga der besonderen Art ist. Tommaso vertraut sich seinem älteren Bruder Antonio an: Der Kleine ist schwul, hat in Rom auch nicht Ökonomie, sondern Literatur studiert und will schon deshalb nichts mit dem Familienunternehmen zu tun haben. Bei einem festlichen Essen ergreift Tommaso seine Chance, er läßt das Glas erklingen ... Doch Antonio fällt ihm ins Wort, erzählt eine Geschichte, an dessen Ende er sich vor der ganzen Familie als schwul outet. Tommaso fällt die Kinnlade runter, der Vater wirft seinen ältesten Sohn raus, kriegt einen Herzanfall, von dem er sich wieder erholt und nun in ständiger Angst, Scham und Schande lebt ... Dieser Auftakt läutet eine Boulevardkomödie vom Feinsten ein, hier stimmt wirklich vieles: das Tempo, der Wortwitz, die Mischung aus Brüllkomischem und Melodramatischem, der liebevolle Blick auf wunderbar skurrile Nebenfiguren. So richtig am Sender dreht Ozpetek dann, wenn er Tommasos Freunde – so schwul wie nur möglich – aus Rom anreisen läßt, dann gehört auch eine tolle Wassertanznummer zum Programm. Die musikalische Begleitung dazu liefern Baccara mit „Sorry, I’m A Lady!“ Toll ist, und deshalb führt Ozpetek seine oft auch schrille Geschichte zu einem sehr emotionalen Ende, daß er die Lebensgeschichte von Tommasos hinreißender Oma als Klammer nutzt.

Und ein letzter noch: Denn auch Sebastian Lifshitz hatte nach viel zu langer Pause (WILD SIDE ist immerhin schon wieder sechs Jahre her!) eine Brüdergeschichte im Gepäck, aber nicht nur: Sein PLEIN SUD ist ein faszinierender Mix aus Roadmovie, Familiendrama und Liebesfilm. Sam mußte als Kind ansehen, wie sich sein Vater im Streit mit der Mutter im Auto eine Kugel in den Kopf jagt. Fortan erleben sein jüngerer Bruder und er, wie Mama zu trinken anfängt und schizophren wird. Die Waffe des Vaters hat Sam behalten, sie hat er im Gepäck, als er mit den Trampern (und Geschwistern) Lea und Mathieu in Richtung Meer fährt. Mathieu verliebt sich in Sam, dem aber fällt es schwer, Gefühle zuzulassen. Und die aufreizende Lea hat ganz andere Sorgen ... Es gibt wie in SOMMER WIE WINTER schöne Szenen am Strand, die Hauptfiguren sind allesamt hübsch anzusehen, die Nacktszenen sind wild, romantisch, natürlich, und Lifshitz entflicht seine Konflikte in gewohnter Subtilität. Und trotz der krassen Kindheitsgeschichte, dem schwierigen Kampf ums Geliebtwerden und Liebenkönnen kriegt der Film gerade zum Ende hin etwas Besänftigendes. Vielleicht, weil er schlußendlich einfach über die Möglichkeit von Liebe und Vergebung räsoniert. PLEIN SUD bleibt ein wenig rätselhaft, das ist gewollt so.

Einen sehr ernüchternden Film hat die Argentinierin Amahí Berneri mitgebracht: POR TU CULPA erzählt von Hilflosigkeit. Julieta ist überfordert, ihr Mann ständig auf Dienstreisen, die zwei Kinder lärmen ohne Unterlaß, sie greift nur halbherzig ein, dann geschieht im Spiel ein Unfall. Der kleine Teo muß ins Krankenhaus, die behandelnden Ärzte vermuten Gewaltanwendung durch die Mutter, ein sinnloser Prozeß kommt in Gang ... POR TU CULPA thematisiert zum einen diesen unerträglichen Aktionismus, der heutzutage von Lehrern und Ärzten an den Tag gelegt wird, wenn sie aus vorauseilendem Kinderschutz Eltern pauschal kriminalisieren. Und zum anderen erzählt der Film von der lächerlichen antiautoritären Erziehung der lieben Kleinen – sobald sie sich quasi fehlverhalten haben, gibt es eine lasche Rüge und im direkten Anschluß das Buhlen der Mutter um sofortige Zuneigung, mit Süßem, Umarmungen und Geschenken.

Ein ganz hartes Teil war der australische Neo-Western RED HILL. Unglaublich, daß dies ein Debüt und nur in vier Wochen gedreht worden sein soll. Der erste Dienst des jungen Polizisten Shane Cooper fängt schon ziemlich beschissen an, ein gefährlicher Verbrecher, der Aborigine Jimmy Conway, ist ausgebrochen und auf dem Weg nach Red Hill. Wie Shane bald mitbekommt, ist Jimmy hier, um blutige Rache zu üben. Für eine furchtbare Tat, in der die gesamte Polizeistation verwickelt scheint. Und dieser Jimmy, mit seinem furchteinflößenden, halbseitig verbrannten Gesicht, fackelt wirklich nicht lange. Hochspannung pur, herrliche Landschaftsaufnahmen, ein böser Witz und nur so viel Text wie nötig sorgen für reines Adrenalinkino! Regisseur Patrick Hughes sollte man im Auge behalten. Wahrscheinlich gilt für dessen Talent das gleiche, was ein verängstigter Einwohner Red Hills über Jimmy sagt: „Nothing’s Gonna Stop Him!“

Und schließlich gab es noch zwei Heuler vom Feinsten. Nach vier Jahren kann man sich endlich an einer neuen Arbeit von Bruce Beresford erfreuen: MAOS LETZTER TÄNZER ist ein zauberhaftes Märchen (trotz authentischem Hintergrund), wenn man so will die Erwachensgeschichte eines kommunistischen Aschenputtels, ein Film, der sich für die ganz großen Gefühle nicht schämt. Was schwer in Ordnung geht! Der zarte Junge Li stammt aus bäuerlichen Verhältnissen und wird als Kind von Talentscouts des Großen Vorsitzenden aus seiner Familie gerissen. Ballettänzer soll er werden, und der Junge hat wirklich Talent. Das sieht auch ein amerikanischer Choreograph, der in Maos Reich gastieren durfte. Li erhält eine Einladung nach Amerika, das umjubelte Gastspiel macht Li zum Star und hat schwere Folgen, denn nun steht alles zur Disposition: Leben, Liebe, Familie! Toll ist vor allem das sensible Zusammenspiel von Li und seinem Mentor (Bruce Greenwood sollte wieder öfter im Kino und weniger in B-Movies zu sehen sein), da schwingt so viel Liebe und Hoffnung mit. Faszinierend sind die endlich auch mal ausgespielten Ballettszenen, und so richtig herzzerreißend wird es, wenn zum Schluß ... Ne, wird nicht verraten, Kinostart ist im Herbst!

Für gehörigen Druck in der Brust sorgte auch das zudem ziemlich explosive Stück AMPHETAMINE. Der Regisseur Scud bot aber auch etwas für die Augen, denn die beiden Hauptfiguren seines mit verblüffenden Bildern aufwartenden Films sehen in der Tat unverschämt gut aus. Kafka ist ein einfacher Junge, der sich mit verschiedenen Jobs durchschlägt, den Drogen zugetan ist, und der eines Tages auf den smarten Daniel trifft. Der kommt aus einer ganz anderen Welt, jongliert mit Finanzen und lebte länger in Australien. Eine komplizierte, schmerzvolle, leidenschaftliche und so herrlich verrückte Beziehung beginnt ...

Manchmal denkt man, das ist nun wirklich zu viel. Aber was ist schon zu viel? Kino ist doch dafür da, über Grenzen hinweg zu erzählen, ein wenig zu spinnen und die Schwerkraft auszuhebeln. Da darf es eine Überdosis Kitsch geben, dazu steht im Kontrast eine nur schwer auszuhaltende Gewalttat gegen Kafka, da berührt extrem, wie der Junge seine Mama verliert, und da bestechen die kunstvoll und dabei völlig unverklemmt gefilmten Erotikszenen. Und nachdem der schwer geprüfte Kafka mit bezaubernden Engelsflügeln beinahe an den Drogen gestorben wäre, dürfen wir durchatmen, an das Schicksal weiter glauben und uns zum Finale über ein rauschendes Wasserballett freuen. Zum Weinen schön!

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.