Noch keine Bewertung

Kinshasa Symphony

Melodien für andere Millionen

Musik schwebt durch die kongolesische Hauptstadt, der Chor der Gefangenen aus „Nabucco“, Lied auf die Freiheit in Gedanken. Es wird sinn- und tonangebend für einen Dokumentarfilm, der sich das Staunen über diese wunderbare Fundgeschichte von keiner noch so prekären afrikanischen Gegenwart austreiben lassen mag. Genau damit macht er sich zum Soundverstärker eines überwältigenden „Trotz alledem!“ Denn die Amateurmusiker des Orchestre Symphonique Kimbanguiste studieren nicht nur Verdi oder Orff ein. Nein, sie proben auch den Aufstand – gegen den alle Muße und Musen verschlingenden Alltag in der von Armut gezeichneten Millionenstadt Kinshasa.

Seit 1994 versammelt sich der zweihundertköpfige Klangkörper zum gemeinsamen Musizieren. Beethovens Neunte steht auf dem Programm, geplant als Glanzstück eines Auftritts auf staubigem Brachland. Bislang allerdings bestehen ängstliche Stimmchen, vergeigte Geigen und verquere Querflöten noch nicht einmal in den Ohren des Dirigenten. Ein Glück, daß Armand Diangienda ausgebildeter Pilot ist. Denn logistische Höchstleistungen sind nötig, um diesem Chaos aus abgearbeiteten, von existentiellen Sorgen abgelenkten Musikern die gebotene Harmonie abzuringen. Daß der Bratschist auch Elektriker ist, daß sich gerissene Saiten durch Fahrradbremszüge ersetzen lassen, kann nicht nur nicht schaden. Es steht vielmehr sinnbildhaft für eine Gesellschaft im Multitasking-Modus, in der oft sogar das Überleben improvisiert ist.

Wischmann und Baer machen die Probe aufs Exempel: Dokumentarfilm als Neuvermessung der Wirklichkeit, wach für gegebene Metaphern, die es „nur“ poetisch urbar zu machen gilt. Mit dem Mut, die erdrückende Realität jenseits der Proben nicht etwa auszublenden, sondern sie – wie sich das für ein Konzert gehört – einmal nicht die erste Geige spielen zu lassen, vollzieht das Regieduo einen Balanceakt nach, den die Kimbanguisten jeden Tag absolvieren. Dabei entdecken sie Kinshasa als Spiegelkabinett der Kontraste, als dramatischen Ort sui generis, an dem Tragödien und Komödien zur selben Zeit möglich sind.

Nicht zuletzt ist diese Symphonie eine der ungebremsten Begeisterung, quasi ein augenleuchtender und wangenglühender Gegenentwurf zum saturierten europäischen Konzertbetrieb. Und zwar – wieder eine dieser weltgemachten Metaphern – anhand seines eigenen Repertoires.

D 2010, 95 min
Verleih: Salzgeber

Genre: Dokumentation, Musik

Regie: Claus Wischmann, Martin Baer

Kinostart: 28.10.10

[ Sylvia Görke ]