Originaltitel: SILENT FRIEND
D/F/Ungarn 2025, 147 min
Verleih: Pandora
Genre: Drama, Episodenfilm
Darsteller: Luna Wedler, Tony Leung Chiu-wai, Enzo Brumm, Sylvester Groth, Martin Wuttke, Rainer Bock, Marlene Burow
Regie: Ildikó Enyedi
Kinostart: 15.01.26
An nicht mehr und nicht weniger als einem neuen Blick auf die Welt versucht sich dieser Film. Drei Episoden und Handlungsstränge verwebt SILENT FRIEND miteinander, quer über die Jahrzehnte hinweg verstreut. Immer wieder geht der eine Strang in den anderen über. Manchmal verschwimmen sie auch mit gespenstischen Effekten, und Vergangenheit und Zukunft überlagern sich in den Bildern. Ein großer Gingkobaum im Alten Botanischen Garten in Marburg bildet dabei den Ausgangspunkt des Films, an dem solche Begegnungen möglich werden, wenn auch nur im Geiste oder über die Motive, die sich wiederholen und verbinden. Wie das Geäst eines Baumes wuchert auch dieses episodische Werk verzweigt in verschiedene Richtungen. Seine Themen erstrecken sich von institutionellem Sexismus über Botanik, Hirnforschung, Romanzen, studentische Revolten bis zur pandemischen Einsamkeit.
Die früheste Episode spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Luna Wedler tritt hier als ehrgeizige junge Frau auf, die erste zugelassene weibliche Studentin an der Universität, die von den patriarchalen Strukturen ihrer Epoche fast zerrieben wird. Irgendwann findet sie Zuflucht in der Technik der Fotografie. Allein, wie es Wedlers Figur im nicht enden wollenden, quälenden Aufnahmegespräch an der Uni mit den herablassenden Wissenschaftlern aufnimmt, ist eine Sensation für sich. Bei den Filmfestspielen von Venedig wurde die Schweizerin dafür als „Beste Nachwuchsdarstellerin“ ausgezeichnet. Ihr gegenüber positioniert die ungarische Autorenfilmerin Ildikó Enyedi zwei Männerfiguren. Die eine, ebenfalls ein Student, tut sich in den 70er-Jahren mit der Liebe schwer und entwickelt schließlich eine besondere Faszination und Beziehung zu der Pflanze, die er hüten und pflegen soll. Und dann ist da der einsame Neurowissenschaftler aus Hongkong, der 2020 nach Deutschland kommt, um das menschliche Hirn zu erforschen.
All das ist nicht nur in persönlichen Momentaufnahmen fabelhaft geschrieben, sondern kreiert vor allem hinreißende Bilder, die einen immer wieder verblüffenden Blick auf die Beziehung von Mensch, Natur und Technik werfen. Auch die (Bewegt-)Bildproduktion rückt dabei in den Fokus. Wo ein Großteil der Filmlandschaft inzwischen häufig dröges ästhetisches Mittelmaß serviert und im Grunde nur noch in festgefahrenen Konventionen auf die Welt schaut, versucht Enyedi, eine künstlerische und audiovisuelle Neugier an den Tag zu legen, mit welchen Eindrücken, Bildern und Klängen der Mensch experimentieren kann.
SILENT FRIEND greift durchaus auf vertraute Erzählmotive zurück, und doch wohnt diesem Film ein großer Pioniergeist inne. Der epische Rahmen, den die Regisseurin
zwischen analoger und digitaler Technik und menschlichen Schicksalen spannt, die gerade erst langsam erkunden und am Beginn von Erkenntnisprozessen stehen, was in und um sie herum alles geschieht, welche Impulse und Energien dort fließen, die wir im Alltag kaum oder gar nicht wahrnehmen oder bewußt ausblenden – das ist herausragendes Kino.
Der Film porträtiert menschliche Versuche, verborgene Strukturen sichtbar zu wachen. Kino und Film in Reinform, könnte man also sagen. Aber Enyedi erweitert deren Begriffe. Sie zeigt jenes Sichtbarmachen in einem historischen Abriß von dem frühen Siegeszug und Experimenten mit der Fotografie über die Erfindung von Sensoren und Meßgeräten bis zu jüngerer Technologie, die das menschliche Denken und Wahrnehmen als Abstraktum in schillernde, bunte Formen, Wellen und Muster übersetzt, welche dann zu hypnotischen Klängen zum psychedelischen Leinwandspektakel werden. Forschung und Kunst werden eins.
SILENT FRIEND will vom Wundersamen und Bezaubernden in der Natur erzählen, wird dabei aber nie esoterisch, sondern nutzt vielmehr wissenschaftliche Fundamente, um das Publikum für einen anderen Blick auf all die Netzwerke zu sensibilisieren, in denen sich der Mensch wiederfindet. Und vielleicht geben sich dort neue, achtsame Sprachen zu erkennen, die unsere Hürden in der Kommunikation zu überwinden wissen.
[ Janick Nolting ]