Originaltitel: KIS UYKUSU

Türkei/D/F 2014, 196 min
FSK 6
Verleih: Weltkino

Genre: Drama, Liebe

Darsteller: Haluk Bilginer, Melisa Sözen, Demet Akbag

Regie: Nuri Bilge Ceylan

Kinostart: 11.12.14

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Winterschlaf

Anatolische Elegie

Einen Filmcharakter so glaubhaft zu zeichnen, daß er mild, warmherzig und offen, aber genauso zynisch, selbstverliebt und gnadenlos ist, erfordert reichlich Meisterschaft und Zeit. Beides gibt und nimmt sich Regisseur Nuri Bilge Ceylan in üppigem Maße. Er setzt diesen – alternden männlichen – Charakter in die wuchtige Berglandschaft Kappadokiens und läßt Aydin, den ehemaligen Schauspieler, mit unaufdringlichem Pinselstrich am Sittenbild der zeitgenössischen türkischen Gesellschaft malen. In allen Farben.

Es gibt in WINTERSCHLAF kaum Ortswechsel, und wenn, dann liegen die Wege der wenigen Figuren in der nahen Umgebung. Das Gros der Handlung spielt innerhalb knapp beleuchteter anatolischer Felsenzimmer oder draußen an deren Wänden entlang. Noch das unscheinbarste Detail in Ausstattung, Farbe, Mimik und Gestik wird also wichtig.

Aydin hat sich in sein Hotel zurückgezogen, schreibt kleine Kolumnen über soziale Zustände und ein großes Buch über das türkische Theater. Mit ihm wohnen seine viel jüngere Frau Nihal und Schwester Necla. Am eigenen Reichtum scheint Aydin bestenfalls mäßig interessiert, das Ringen um philosophische Tiefe, Werte und den freien Geist liegt ihm noch immer näher. Wie eine lästige Störung unterminiert aber der Alltag dieses bedächtige Sein. Arme Menschen in Dorfhäusern, die Aydin gehören, können ihre Miete nicht mehr bezahlen, die organisierte Wohltätigkeit seiner Frau kitzelt ungeahnte Eifersüchte heraus, seine blitzgescheite Schwester kompensiert ihre Einsamkeit nach der Scheidung, indem sie Aydin in lange Gespräche über Genügsamkeit und Intellektualität verwickelt. Das Lästige am Tagwerk schiebt Aydin seinen Angestellten zu, er selbst wechselt lieber nette Worte mit den wenigen Gästen. Nichts, so scheint es, soll ihn aus der Ruhe bringen. Wie der Winter aber nehmen die Irritationen zu und damit die Konturen von Aydins Charakter.

Regisseur Ceylan überläßt nichts dem vorsätzlichen Sezieren, dem trockenen Dialog, nicht mal den Worten an sich. Denn er findet mit unbeschreiblich sicherem Gespür einen kraftvollen, sinnlichen, sinfonisch anmutenden Bild-Text-Rhythmus, der Referenzen an Tschechow und Shakespeare nie leugnet, aber in besonderem Maße nach Kino giert.

Für WINTERSCHLAF gab es die Goldene Palme in Cannes 2014. Preise hin, Preise her – hier ist es wirklich ein Siegel, das Entdeckung rechtfertigt.

[ Andreas Körner ]