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My Brother Tom

Von Poesie, Wildheit und unüberwindbarer Traurigkeit

Freak, Außenseiter, Grenzgänger. Tom. Scheu wie ein ungezähmtes Tier, mit ängstlichem Blick und unerwarteten Bewegungen zieht sich der introvertierte Junge oft in den Wald zurück. Dafür wird er von Schulkameraden attackiert, bedroht. Sie wissen eben nichts von ihm.

Nur Jessica verteidigt ihn einmal. Seitdem läßt Tom nicht locker, taucht mit Sprüngen aus Baumkronen auf dem Schulweg plötzlich vor ihr auf, schaut sie durch die Fenster ihres Zimmers an, und schon bald flüstern sie sich Schwüre zu. Jessica interessiert sich für den schlaksigen Jungen. Sie folgt ihm in den Wald, sie vergessen und feiern sich in ihrer Nacktheit. Doch die Wunden beider Seelen sind noch nicht ausgeblutet, dennoch bitter vernarbt. Jessica wurde von ihrem Lehrer, der auch Freund und Nachbar der Familie ist, mißbraucht, und sehr bald entdeckt sie, daß Tom mit seinem Vater ein noch widerlicheres und schier unerträgliches Geheimnis verbindet. Ein Schicksal, daß für die knochigen Schultern des sanften Jungen nur zu wuchtig sein kann ...

Trotz poetischer Züge, leidenschaftlich-unbändiger Zartheit und dem winzigen Tupfen Hoffnung, der mit dem Sonnenlicht durch die Baumkronen vage schimmert, ist in Dom Rotheroes bewegendem Film schnell klar, daß die Flucht Toms in den Wald eine ohne Rückkehr ist. Zu stark wurden durch die seelischen Verletzungen und die körperlichen Mißhandlungen die Pfosten angesägt, die ein Durchhalten und Weitermachen ermöglichen. Da kann Jessica nur ein kurzes Aufleuchten sein, trotz ihrer bedingungslosen Zuneigung.

Dies ist einer der wenigen Filme, die Grauenvolles erzählen, dabei aber niemals den Ton in der Mitte vergessen und sich nicht auf das tränennahe Terrain der Sentimentalität verirren. Rotheroe zeigt Toms zitternde Hände, seine wachsamen und mit unendlicher Trauer in die Aussichtslosigkeit schauenden Augen. Das ist ehrlich, ohne Berechnung und einfach nur zum Weinen.

Originaltitel: MY BROTHER TOM

GB 2000, 110 min
Verleih: Piffl

Genre: Drama, Erwachsenwerden

Darsteller: Jenna Harrison, Ben Whishaw

Regie: Dom Rotheroe

Kinostart: 10.10.02

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.