Originaltitel: LA TÊTE EN FRICHE

F 2010, 85 min
FSK 6
Verleih: Concorde

Genre: Tragikomödie, Poesie

Darsteller: Gérard Depardieu, Gisèle Casadesus

Regie: Jean Becker

Kinostart: 06.01.11

17 Bewertungen

Das Labyrinth der Wörter

Sympathischer und lebenskluger Blick auf eine ungewöhnliche Freundschaft

Die schönsten Geschichten im Kino sind doch die von Begegnungen der merkwürdigen Art. Man denke an Léon und Mathilda, Thelma und Louise, E.T. und Elliott. Oder an Germain und Margueritte, die wir in diesem wunderbaren, lebensklugen Film kennenlernen dürfen. Die beiden trennen Welten, möchte man meinen: Er dürfte Ende 50 sein, trägt einen riesigen Bauch unter straffer Latzhose, macht dies und das, ist eher Rauhbein als Feingeist. Sie macht die 100 bald voll, zieht sich fein an, wählt die Worte mit Bedacht und ist eher von zarter Figur. Und doch teilen die beiden bald eine Leidenschaft – die fürs Lesen. Eine Annäherung von unterschiedlichen Fronten: Sie liest ihm vor, er hört ihr zu. Anders kann es nicht sein, denn Germain war ein schlechter Schüler, er hatte es schwer bei seinen Lehrern, die ihn in fieser Regelmäßigkeit vor der Klasse bloßstellten. Ein Buch hatte er bisher wohl kaum in der Hand, doch Margueritte erahnt ein Talent: Wer gut zuhören kann, ist auch ein guter Leser. Germain wird es lernen, er muß es lernen – denn Margueritte verliert zunehmend ihre Sehkraft.

Mehr nicht. Das genügt. Eine Exposition der Meisterart ­ – zwei unterschiedliche Menschen, auf einer Parkbank, die sich grüßen, annähern, Schrulligkeiten voneinander erfahren und sich aufeinander einlassen. Sie gibt den Tauben Namen, ein Spiel, das er perfektioniert. Ein fast kindlicher Spaß, der eine tiefe Nähe zwischen den beiden zuläßt. Margueritte hat ihre Literatur, Germain die Kneipenfreunde und seine Katze, zu der er spricht. In knappen Pinselstrichen umreißt Jean Becker seine Figuren, den Rest übernimmt sein Film wie von selbst. Hier entsteht noch wirklich etwas, hier wirkt so wenig papieren, was auch daran liegt, daß DAS LABYRINTH DER WÖRTER keine konstruierte Geschichte erzählt, sondern einen Blick ins Leben gewährt. Da ist nun einmal nicht alles errechenbar, da zeigen die sonnigen Momente bereits, welch’ Schatten so ein Leben werfen kann. Germain kümmert sich um seine jähzornige Mutter, die ihn spüren läßt, daß er kaum ein Kind der Liebe, eher eins aus Versehen ist, die ihn früh vernachlässigt, die ihn aber auch schon einmal mit der Mistgabel vor den Übergriffen ihrer zahllosen Liebhaber schützt. Diese Kindheitstraumata werden zwischengeschnitten, sind niemals Fremdkörper in einem ansonsten durchgehend „warmen“ Film – vielmehr sind sie notwendig, um zu zeigen, wie aus Germain, dem zarten Jungen, Germain der etwas linkische Klotz werden konnte.

Und wer sonst kann diesen bulligen, sanften Wilden spielen, wenn nicht der große, momentan sich wieder zur Bestform aufbäumende Depardieu? Da ist schon wirklich anrührend, mit welch’ kindlichem Staunen er in die Welt von de Maupassant oder Camus eintaucht, wie er quasi erstmals überhaupt zu einer kultivierten Sprache findet, wie er mit diesen riesigen Händen und dabei allerhand Geschick seiner neuen Bekanntschaft einen Gehstock schnitzt.

Jean Becker ist ein im Wortsinn schöner Film gelungen, der in seiner Einfachheit glänzt: Er erzählt eine einfache Geschichte mit einfachen Worten über einfache Menschen, die eben einfach älter werden. Das ist nie geklittert, erzählt am Rande auch vom gefürchteten Abstellgleis, läßt aber eben den ganzen öden, schnöden theoretischen Mist wie Rente mit 67, Generationenausgleich, all diesen erbärmlichen und lebensgrauen Matsch, den Politik und Behörden uns Menschen so aufbocken, außen vor. Hier zeigt sich die Solidargemeinschaft, wie sie sein sollte – als eine aus dem Herzen wachsende Angelegenheit. Das ist ehrlich, birgt jede Menge Witz, und wie es sich für eine erwachsene Geschichte gehört, wartet sie mit allerhand sympathischen Lebensweisheiten auf: Dazu gehört eben, daß das Leben nicht hält, was es verspricht, oder daß das Alter wahrlich eine Last ist – für die anderen. Das ist lebensecht, dabei wunderbar augenzwinkernd, und derartige Weisheiten haben ja immer doppelten Boden. So steht am Ende für Germain ein ganz neues Lebensversprechen, das seine etwas jüngere Freundin unter der Brust trägt, und auf Margueritte wartet die wohl schönste Entführung der Filmgeschichte.

Wer sich nach der zur Weihnachtszeit fast schon fies auftürmenden Nächstenliebe ein Echtheitszertifikat von Zuneigung, Sympathie und Zusammenhalt ins Gedächtnis rufen möchte, der sollte diesen schönen Film auf keinen Fall verpassen.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.