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Die Frau, die singt

Von einem Geheimnis, das größer als das Leben ist – ein Kinoglanzstück

Große dunkle Kinderaugen. Schwere Stiefel. Daneben nackte Füße. Köpfe werden geschoren. Darüber droht die Musik von Radiohead. Ein Regisseur legt eine Spur. Zeiten- und Szenenwechsel: Den Geschwistern Jeanne und Simon wird das Testament ihrer Mutter Nawal verlesen. Die Frau hat die letzte Zeit ihres mit 60 Jahren zu kurzen Lebens geschwiegen. Bis Nawal ihrer Stimme folgte und ganz erlosch. Mit ihrem letzten Willen will sie die Wahrheit ans Licht bringen, eine Wahrheit, der sich Simon verweigert, seine Zwillingsschwester ist da offener. Simon aber will seine Mutter „normal“ beerdigen, damit wenigstens etwas Normalität in ihr Leben kommt. Aber was weiß der Junge schon von seiner Mutter? Ein klein wenig mehr schließlich, als den beiden zwei Briefe vorgelesen werden. Sie sind an ihren Vater und an einen den beiden unbekannten Bruder gerichtet. Die Mutter fordert die Zwillinge auf, beide zu finden.

Denis Villeneuve gelingt mit diesem Prolog ein geradezu beängstigender, unter die Haut gehender Einstieg in eine Geschichte, die sich im Verlauf als große Tragödie von fast archaischem Ausmaß erweist. In einem Land im Nahen Osten: Die junge Nawal trägt ein Kind unter der Brust, vor ihren Augen erschießen die Brüder ihren Geliebten. Sie wird versteckt und das heimlich geborene Kind ihr entrissen. Nawal schwört: Eines Tages werde ich dich finden. Das wird sie auch. Anders als sie es vorhatte, anders als es sich der analytischste Zuschauer ausmalen kann. Villeneuve ist ein in faszinierender Puzzleform gestaltetes Großwerk gelungen, ohne Scheu vor Leidenschaft, vor Wut, vor Überlebensgier in einer Zeit, in der Tod und Schmerz näher sind als an sich ertragbar. Der Bürgerkrieg vertreibt die Menschen, die Dörfer werden entvölkert, Universitäten gestürmt, die Miliz erschießt nach Willkür, Nawal landet im Gefängnis.

Wie leicht hätte das aus dem Ruder geraten können – eine derart dichte und komplexe Erzählung der Verlockung jeder Unübersichtlichkeit, der Überreizung fernzuhalten, ist vielleicht der größte Verdienst Villeneuves. Mit beinahe minutiös steigender Intensität fügt er in diesem außergewöhnlichen Stück Hochpulskino ein Teilchen zum anderen, läßt er die Kinder den Spuren der Mutter folgen, erzählt von Mord, Folter und Vergewaltigung. Er tut dies dosiert und kunstvoll, was nie Manier ist, sondern das einzig rechte Mittel, um Empathie zu halten und nicht in den blanken Schock zu führen. Interessant, wie er uns Zuschauer stets ein kleines Stück näher an die Wahrheit führt als die Kinder, um letztendlich auch uns zu zeigen: Das Lebensgeheimnis der Mutter ist größer als die Vorstellungskraft.

Villeneuve gelingt ein aufwühlendes Kinoglanzstück, ja, ein regelrechtes Poem, nicht nur durch die titelgebende Überlebenstaktik Nawals, sondern weil er ganz selbstverständlich mit den Mitteln des kunstvollen Erzählens und Montierens Grenzen auflöst: zwischen Folterkammern und sandigen Landschaften, Räson und Selbstjustiz, Religion und Charakterstärke. Nawal läßt sich nicht brechen, und auch dadurch wird sein Film zum großen Gedicht an eine starke Frau.

Es geht nicht um Juden, Moslems, Christen. Es geht um einen Menschen. Der Stärke bewiesen hat, um Leben zu geben, der sein Schweigen zum einzig geeigneten Zeitpunkt auflöst. Jeanne und Simon erfahren dann das ganze Maß der Wahrheit, die eine ekelhafte ist. Der Zuschauer ist zeitgleich am Ziel und nachhaltig erschüttert.

Originaltitel: INCENDIES

Kanada 2010, 130 min
FSK 12
Verleih: Arsenal

Genre: Drama

Darsteller: Lubna Azabal, Maxim Gaudette, Mélissa Désomrmeaux-Poulin, Rémy Girard

Regie: Denis Villeneuve

Kinostart: 23.06.11

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.