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Die Jungs vom Bahnhof Zoo

Von schnellem Geld und kaputten Seelen

Die Introduktion führt in die Irre – ein Kameraspaziergang durchs grüne Unterholz, eine üppige Blüte da, ein sepiafarbenes Foto hier. Er wäre nicht Rosa von Praunheim, würde er dies nicht nur nutzen, um danach verstörende Propaganda und Homofeindlichkeit in Reinnatur aus dem Abendschau-Archiv aufzufahren, in dem Schwule und Stricher 1968 als asoziale Elemente, Rechtsneurotiker, Parasiten und Schwerkriminelle tituliert werden. Dann wird vorgespult in die Jetztzeit, der Umgang mit Prostitution mag sich geändert haben, „leicht“, sich als Strichjunge das Geld zu verdienen, ist es immer noch nicht. Wobei Klaus, 39, schon mal ins Schwärmen gerät, wenn er sich an seine Strichzeiten vor 20 Jahren in der Technohochphase erinnert – „War’n großes Abenteuerland“ ...

Schade, daß von Praunheim diese Figur, die so gegensätzlich zu den nachfolgend Porträtierten ist, schnell vernachlässigt. Dafür heftet er sich an die Fersen von Daniel, Daniel-René, Nazif, Romica und Ionel. Die letzten drei mit Roma-Hintergrund und an sich eher hetero, doch sie wissen: „Wenn Du hast großen Schwanz, hübschen Arsch ...“, dann soll Rumänien Rumänien sein, in Deutschland läßt sich damit Geld machen. Hauptaugenmerk liegt auf Daniel, die in der Tat spannendste Figur, die quasi exemplarisch für die bundesdeutsche Strichjungenkarriere steht: asoziales Elternhaus, Kinderheim, der erste Joint, bald härteres Zeug, kleinere Diebstähle, dann das Knacken von Autos, Prostitution, Knast. Noch keine 30, ihm fehlen die Schneidezähne, er weiß um seine letzte Chance. Die will er nutzen, für sich und sein Kind. Da berührt schon tief, wenn er mit diesen großen, blauen und irgendwie ins Leere strahlenden Augen Sätze wie jenen sagt: „Ich bin 92 raus aus der Familie.“ Von diesen anrührenden Momenten gibt es einige – auch Daniel-Renés noch junges Leben ist eine einzige Katastrophe, vom Mißbrauch durch den Schulhausmeister bis zum Durchreichen bei unzähligen Freiern. Natürlich kommt der Film nicht ganz ohne von Praunheims Suggestivfragen aus, aber er hält sich relativ zurück und fügt seinem Film neben Stricherkneipenwirten und Sozialarbeitern einen weiteren interessanten Gesprächspartner hinzu: Peter Kern, Schauspieler und Regisseur, bekennender Freier. Wobei er mit Sicherheit nicht zu den „Schweinefreiern“ à la Kinder-Karsten gehört, der vorher erwähnt wird. Kern ist gnadenlos mit sich: Er sei ein fettes, einsames Monster, das geliebt werden will. Nicht mehr. Und er weiß, warum er dafür zahlen muß.

Von Praunheim verläßt dann Berlin und folgt einem Protagonisten in die rumänische Heimat, das verwässert die Stringenz der Dokumentation ein wenig. Wobei der Film insgesamt nachhallt: Was an den teils sehr detailliert geschilderten Leidenswegen liegt und vor allem an den Gesichtern. Das von Nazif wird man nicht wieder vergessen. Es ist müde, leer, fertig. Ein gebrochener Mensch, dem als Fastnochkind vom Vater der Hintern mit Feuerzeugbenzin verbrannt wurde, der später die Kraft fand, ein Buch zu schreiben, der jetzt nicht mehr hat als eine Aufenthaltsgenehmigung in Wien. Als kaputter junger, alter Mann.

D 2010, 86 min
Verleih: Basis

Genre: Dokumentation

Regie: Rosa von Praunheim

Kinostart: 24.02.11

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.