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Barfuß auf Nacktschnecken

Das Leben schaffen

Es ist ein herrlicher Tag. Die Sonne taucht die Weizenfelder in ein berauschendes Goldgelb, Lily albert mit ihrer Mama herum, spielt toter Hase, sie necken sich, bis Maman die bereits erwachsene Tochter auffordert, schon mal nach Hause zu gehen. Das tut Lily und schaut dem Wagen der Mutter nach. Bis der plötzlich vom Weg abkommt und ins Feld rollt.

Lily ist die Einzige, die am Grab weiß trägt, sie küßt die Fellhausschuhe ihrer Mutter und gibt diese mit in die Ewigkeit. Hier trauert auf eigensinnige Weise ein Mensch, der eine besondere Bindung zu seiner Mutter hat. Aber auch Clara trauert. Sie ist die Erstgeborene und ohnehin ganz anders, erwachsener, klarer, nicht so spinnert, sie lebt in Paris. Und Clara fühlt sich für ihre Schwester, die so viel unkonventioneller, für manche geradezu zurückgeblieben ist, verantwortlich. Die beiden nähern sich an mit allem, was dazugehört: Streit und Zärtlichkeit, böse Worte und alberne Momente, Austeilen und Einstecken.

Fabienne Berthaud erzählt in jedem Fall eine Familiengeschichte, mehr noch aber schaut sie auf einen ungewöhnlichen Menschen, auf Lily. Sie ist der Inbegriff der Aneckbaren, an ihrem Aussehen, Stil, Benehmen und an ihrer Fantasiefähigkeit reibt sich ihr unmittelbares Umfeld, man fühlt sich durch ihren sprichwörtlichen Esprit libre angegriffen, was viel mehr über Nachbarn, Familie und Institutionen aussagt als über Lily selbst. Sicherlich hat sie einen Knacks, was nicht verwundert nach den Einblicken in die Familiengeschichte, die der Film sukzessive gewährt. Doch vor allem ist sie ein beeindruckender, geradezu anarchistischer Mensch, der sich selbst auf das reduziert, was ihm gut tut: eben frei sein.

Ludivine Sagnier gibt dieser Lily all ihre Körperlichkeit, die aus ihr kämpferische Amazone, sommersprossiges Kind, frechen Freak und traurige Gegen-die-Konventionen-Ritterin gleichermaßen macht. Sie ist immer geradeaus, von furchtloser Ehrlichkeit, was auch zu schrägen Momenten führt, in denen man gleichermaßen erschrocken wie amüsiert ist: Als sie sich am See durch einen großen Hund anderer Badegäste geängstigt fühlt, weil er sie einfach abschleckt, die Hundehalter nichts tun, obwohl sie sich lautstark beschwert, geht sie einfach zu den Ignoranten hin und leckt sie ebenfalls ab. Man bringt ihr schon ein großes Maß an Sympathie entgegen, was die Figur Claras etwas blasser macht. Das wiederum paßt zu Diane Kruger: Nicht, daß sie diesmal zum mimischen Totalausfall wird, sie fügt sich einfach, scheint zu wissen, was sie kann, und so geben die beiden ein durchaus stimmiges Schwesternpaar ab.

Toll ist, daß Berthaud nicht ihr ganzes Pulver gleich zu Beginn verschießt, sie versteht zu überraschen, was ihre Hauptfigur noch deutlicher als das darstellt, was sie eben ist: ungreifbar. Lily ist durchaus bemüht, das Leben zu schaffen. Tag für Tag. Aber eben ohne sich ständig zu verbiegen. Diese Antiautorität tut dem Film gut, und Berthaud hält einen wunderbaren und Frieden stiftenden Schluß parat, der gottlob so weit entfernt von der Anwaltsgattinnenwelt Claras und umso näher am Geborgenheitsstreben Lilys ausgerichtet ist. Ein klares Sympathiebekenntnis zu einer ungewöhnlichen Frau und zum Abweichen von der Linie.

Originaltitel: PIEDS NUS SUR LES LIMACES

F 2010, 105 min
FSK 12
Verleih: Alamode

Genre: Tragikomödie, Familiensaga

Darsteller: Ludivine Sagnier, Diane Kruger, Denis Menochet

Regie: Fabienne Berthaud

Kinostart: 05.05.11

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.