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Vertraute Fremde

Späte Reise in die frühe Jugend

Sam Garbarski ist nicht zu fassen! Während andere an einem charakteristischen Stil arbeiten und nach lebenslänglichen Leitmotiven suchen, scheint dieser spät zum Film Berufene nichts lieber zu tun, als für jede Geschichte eine neue Handschrift zu erfinden. Sein Langfilmerstling über eine jüdische Großfamilie in allerhand Glaubenskrisen und das nachfolgende Prachtporträt der wichsenden Witwe Irina Palm gleichen sich wie Äpfel und Birnen. An welche inkommensurable Frucht nun dieses neue Werk erinnert? Es ist jedenfalls milder, versöhnlicher und süßer im Geschmack. Denn Garbarski hat einen geheimen Weg zurück in die Jugend entdeckt, auf dem man, merkwürdig genug, noch einmal reifen kann.

Daß die wundersame Zeitreise für den fahlgesichtigen Comic-Zeichner Thomas in einem schnöden Zug beginnt, und dann auch noch im falschen, zeugt vom sublimen Realitätssinn dieses Märchens. Statt in Paris bei Frau und Kindern landet Thomas also im Städtchen seiner Kindheit, besucht das Grab der Mutter und wird von einer seltsamen Ohnmacht in den 14jährigen Pennäler von einst verwandelt. Thomas wundert sich, beschaut seine neuen alten Knabenhände, erkundet das ehemals vertraute Haus und begrüßt die Mutter, die sich wiederum gar nicht wundert. Noch ist auch der Vater da. Und Thomas wird klar, daß er hier die einmalige Gelegenheit erhält, den Mann nicht gehen zu lassen, oder zumindest die Jahrzehnte alte Frage zu klären, warum Papa die Familie eines Nachts verließ. Jene Nacht wird kommen, einmal mehr.

Jawohl, Herr Garbarski, wir sind wieder einmal überrascht. Die Adaption eines Mangas des japanischen Bilderzählers Jiro Taniguchi in den goldwarmen Farben der Nachkriegsjahre in der französischen Provinz. Und wenn Taniguchi auch als westlichster unter den fernöstlichen Mangata gilt, und wenn Sam Garbarski auch der im Herzen östlichste naturalisierte Frankobelgier deutscher Herkunft wäre – die Geschichte funktioniert für alle Hemisphären.

In ihr ist die Sehnsucht, erste Dinge, erste Liebe, ersten Whisky zum zweiten Mal zu erleben, und zwar besser. In ihr ist der Traum, dumme Fehler zu korrigieren und dafür schönere zu machen. Garbarski baut eine begehbare Kindheit für Erwachsene, die einen noch einmal das Staunen lehrt über eine Welt der Möglichkeiten. Den umwerfenden Charme der Irina hat sie nicht – wie könnte sie auch?! Aber sie ist raffiniert.

Originaltitel: QUARTIER LOINTAIN

Belgien/Luxemburg/F/D 2009, 100 min
FSK 0
Verleih: X Verleih

Genre: Comicverfilmung, Drama, Mystery

Darsteller: Pascal Greggory, Jonathan Zaccaï, Alexandra Maria Lara, Léo Legrand, Lionel Abelanski

Regie: Sam Garbarski

Kinostart: 20.05.10

[ Sylvia Görke ]