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Wir sind, was wir sind

... oder: Man ist, was man ißt

Primär in den 70ern erlebten Kannibalen ihre kurze Kino-Blütezeit – da preschte selbst Ex-Bond-Girl Ursula Andress als DIE WEISSE GÖTTIN DER KANNIBALEN nackend, wenn auch schon angeknittert, durchs blutbespritzte Buschwerk. Daß es anspruchsvoller geht, möchte dieses Horrordrama zeigen und beginnt mit einem Mann, der im Einkaufszentrum herumwankt, eine Schaufensterscheibe beschmutzt, Ärger kriegt. Schließlich bricht der Namenlose zusammen, spuckt Schleim, stirbt – und wird ohne Zeitverlust vom Reinigungstrupp entsorgt. Doch leider ist solch zynische Exposition das Beste an einem Film, welcher sich irgendwann verzettelt.

Zurück bleiben, jetzt auf sich gestellt, die Gattin und drei Teenager-Kinder des Verblichenen. Daß sie Kannibalen sind, verschlimmert alles ebenso wie eine dringend durchzuführende Zeremonie, weswegen die Protagonisten beim Rumrennen immer wieder düster „Das Ritual, das Ritual!“ murmeln. Mehr ist nicht zu erfahren, man nimmt es hin, ebenso wie Humor, bei dem nie so recht klar wird, ob er beabsichtigt war: Da wartet schon mal ein buchstäblich angeschlagenes Opfer brav ab, bis innerfamiliäre Zwistigkeiten beseitigt sind, anstatt zu flüchten.

Oder existiert da etwa eine Meta-Ebene? Der Gedanke drängt sich auf, betrachtet man, was hier alles reingeworfen wurde: Von unverhohlener bis plakativer Sozialkritik über geschwisterliche Spannungen und ein recht überflüssiges Coming Out inklusive fragwürdiger „Schuldzuweisung“ bis hin zu Holzhammer-Metaphorik – Mutti berichtet vom Tacco-Spiel ihrer Jungs, am Ende wartet breit ausgespielt die visuelle Bebilderung dessen – gibt’s allerhand zu hören beziehungsweise zu sehen. Oder eben nicht, weil das Geschehen stets die Finsternis sucht, der Beleuchter hatte kaum etwas zu tun. Auch Brutalitäten laufen meist außerhalb des Sichtfeldes plaziert ab, was als großes Plus die Zuschauerphantasie auf ungeahnte Hochtouren treibt. Im Finale gibt’s aber dennoch ein mäßig hämoglobinhaltiges Blutbad – echte Arthouse-Kinogänger läßt es vermutlich angewidert aus der Sommerklamottage schießen, vom modernen Filmkonsum gestählte Horrorfreunde gähnen bloß drüber. Wer sich da angesprochen fühlen soll? Gute Frage, nächste Frage.

Bitte sehr: Worauf will das Ganze eigentlich hinaus? Man nimmt mit, daß die Welt in Sachen Sozialsystemen aus dem Ruder läuft, und es Kannibalen doppelt schwer haben. Ja. Und nun?

Originaltitel: SOMOS LO QUE HAY

Mexiko 2010, 90 min
FSK 18
Verleih: Alamode

Genre: Drama, Horror

Darsteller: Francisco Barreiro, Alan Chávez, Paulina Gaitán

Stab:
Regie: Jorge Michel Grau
Drehbuch: Jorge Michel Grau

Kinostart: 02.06.11

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...