D 2025, 149 min
FSK 16
Verleih: Neue Visionen
Genre: Drama, Historie, Familiensaga
Darsteller: Lena Urzendowsky, Zoë Baier, Hanna Heckt, Lea Drinda, Luise Heyer, Laeni Geiseler, Susanne Wuest, Filip Schnack, Konstantin Lindhorst
Regie: Mascha Schilinski
Kinostart: 28.08.25
In der Altmark, jener historischen Region im Norden von Sachsen-Anhalt, spricht man ein Platt, in dem die Konsonanten so sanft sind wie die umgebenden Hügel und die Vokale so verschliffen wie die Hände nach der Feldarbeit. Das 20. Jahrhundert wehte über die Gegend hinweg und wühlte mit seinen heißen und kalten Kriegen den Alltag der Menschen auf, wie überall sonst in Deutschland, ach was, in Europa. Wie überall sonst? So universell die Berliner Filmemacherin Mascha Schilinski von sich durch Generationen ziehenden Narben erzählt, so wenig ist IN DIE SONNE SCHAUEN in irgendeiner anderen Landschaft als genau dieser vorstellbar. Inmitten der altmärkischen Äcker und Wälder steht ein Vierseithof. In ebenjenem Vierseithof ereignet sich, was wir „Handlung“ nennen. Aber ob man die vier Mädchen, die Schilinski darin auftreten läßt, wirklich als „Handelnde“ bezeichnen darf?
Angelika sitzt mit Mutter Irm am Küchentisch und weigert sich, Onkel Uwes anzügliches Starren zu bemerken. Draußen zieht die DDR der 80er-Jahre mit ihren Trabis und Plattenbausiedlungen vorbei, das Gehöft wird von einem sozialistischen Kollektiv bewirtschaftet. Als Erika hinaus auf die Felder läuft, um nie wiederzukehren, weht ein anderer Geist durchs Land, die letzten Gefechte an der Heimatfront des Zweiten Weltkriegs stehen dicht bevor. Nelly kennt die 40er-Jahre nur aus dem Schulunterricht. Sie kommt in die beschauliche Altmark, um mit Mama und Papa den Work-Life-Balance-Traum der 2020er zu leben und das inzwischen heruntergekommene Bauernhaus wieder bewohnbar zu machen. Dazwischen huscht die semmelblonde Alma von Kammer zu Kammer, von Stiege zu Stiege und beobachtet Vorgänge, die sie sich nicht erklären kann. Was die Ermordung des österreichischen Thronfolgers im fernen Sarajevo des Jahres 1914 mit dem abgetrennten Bein ihres großen Bruders Fritz zu tun hat? Das übersteigt den Horizont dieses Kindes, das noch zu klein ist, um über die Mauern des Familiengutes zu schauen. Aber auch Alma macht Erfahrungen mit dem Tod.
„Schon komisch, daß einem was weh tun kann, was gar nicht mehr da ist.“ Welchem der vier Mädchen das Drehbuch diese ebenso schlichte wie richtige Feststellung in den Mund legt, spielt im Grunde keine Rolle. Angelika, Erika, Nelly und Alma werden sich in keiner Szene, in keiner Einstellung persönlich begegnen. Als die eine zur Welt kam, war die Welt der anderen – das Kaiserreich, das Hitlerreich, das SED-Reich – längst untergegangen. Und doch rücken ihre Stimmen, Augen und Körper auf gespenstische Weise zusammen, entwickeln verblüffende Ähnlichkeiten, fallen manchmal fast in eins. Denn mag Schilinskis planvoll gegen alle Regeln der personellen oder chronologischen Folgerichtigkeit mäanderndes Generationendrama die Timeline der Kriege und politischen Systeme stets parat haben – ihre Art der Historiographie gilt einem Reich eher imaginärer Natur. In ihm leben Töchter, Mütter, Mägde und Zugehfrauen, die sich, ohne einander jemals getroffen zu haben, an ihren Ängsten und Verlusten erkennen wie der Soldat seinen Kameraden an der Uniform.
DAS WEISSE BAND kommt einem als Vergleich in den Sinn, natürlich. Aber IN DIE SONNE SCHAUEN neben Michael Hanekes fiktive Beschreibung einer an ihrem Deutschsein erstickenden Epochen-Kohorte zu legen, hieße das Außergewöhnliche dieses dann doch sehr anderen Films kleinzureden. Der formalästhetische Wagemut ist groß, die Details sind verspielt, die Wellen des Bewußtseinsstroms überschlagen sich gelegentlich. Der permanent von der Leinwand kippende linke Kaderrand, die Lochblenden, die Unschärfen und Überbelichtungen, die meist nur halb geöffneten Türen: wagemutige Bildgestaltung an der Grenze zur Bildstörung.
Beim Festival in Cannes, das dem deutschen Film traditionell zurückhaltend begegnet, wurde Schilinski für ihre erst zweite abendfüllende Regiearbeit mit dem Preis der Jury ausgezeichnet. Wünschen wir ihr, daß die Begeisterung und Verehrung von der Croisette auch in den Kinonormalbetrieb schwappt.
[ Sylvia Görke ]
Schauburg: 19:00
Luru Kino: 19:00
Passage Kinos: 20:15
Luru Kino: 17:00
Passage Kinos: 20:15
Regina Palast: 11:00
Kinobar Prager Frühling: 15:45
Luru Kino: 11:00, 17:00
Passage Kinos: 11:00, 20:15
Regina Palast: 11:00
Passage Kinos: 20:15
Schauburg: 19:00
Luru Kino: 18:30
Passage Kinos: 20:15
Schauburg: 19:00
Passage Kinos: 20:15
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