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Je suis Charlie

Filmische Trauerarbeit

Wenn ein Film trotz kürzester Produktionszeit von der Realität eingeholt wird, muß man davon ausgehen, es mit einem brandaktuellen Thema zu tun zu haben. JE SUIS CHARLIE rekapituliert den tödlichen Terroranschlag auf die Redaktion das Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ am 9. Januar 2015 – und jede einzelne Aussage des Films bekommt durch die Ereignisse des 13. November 2015 noch mehr Wucht.

Dabei liegt der Beginn der Geschichte schon Jahre zurück. Die Regisseure haben bereits 2008 einen Film über die „Charlie Hebdo“-Redaktion gemacht. Damaliger Anlaß war eine Klage, die eine muslimische Gruppe angestrengt hatte, weil das Blatt 2006 die dänischen Mohammed-Karikaturen abdruckte. Das Verfahren endete mit einem Sieg von „Charlie Hebdo“, doch die Eskalation nahm ihren Lauf. Vor allem die Karikaturen des Chefredakteurs Charb provozierten Muslime weltweit. 2011 zerstörte ein Brandanschlag die gerade neu bezogenen Redaktionsräume, und 2013 tauchte Charb auf einer Al-Qaida-Todesliste auf; Kopfgeld: 150.000 Euro.

Über all dies hat das Vater-Sohn-Regie-Duo in langen Einzelinterviews mit Charb, Cabu und Co. gesprochen. Mit klaren Worten legen sie dar, warum ihre Karikaturen nicht rassistisch, sondern schlicht und einfach kritisch sind. Sie betonen immer wieder, daß ihre Kritik nicht auf normale Muslime, sondern auf Fundamentalisten zielt, und daß der Humor nun mal ein wichtiges Element der offenen Gesellschaft sei. Es ist gespenstisch zu hören, wie diese eloquenten Menschen die Freiheit der Kunst verteidigen, obwohl wir längst wissen, daß sie für ihre Inanspruchnahme mit dem Leben bezahlt haben. Es ist gespenstisch zu begreifen, wie wenig Rückhalt es gab, bevor das Attentat sie zu Märtyrern machte, und Hinz und Kunz sich mit „Je suis Charlie“-Schildern solidarisierte. Es ist gespenstisch zu ahnen, daß viele, die später „auch Charlie sein wollten“, vorher mehr „Fingerspitzengefühl“ und „Zurückhaltung“ forderten, statt sich deutlich hinter die Karikaturisten zu stellen.

Dieser Dokumentarfilm ist eine filmische Trauerarbeit und daher nicht ganz frei von schwachen Momenten. Besonders die Musik hat zu viel Pathos und hätte Charb und Co. ohne Zweifel die Nackenhaare aufgestellt. Dennoch ist JE SUIS CHARLIE absolut sehenswert – vor allem in Hinblick auf die Frage nach der eigenen Position in der Debatte um (Presse-)Freiheit, Humor und den Umgang mit radikalen Positionen, die diese Werte um jeden Preis beschneiden wollen.

Originaltitel: JE SUIS CHARLIE

F 2015, 90 min
FSK 0
Verleih: Temperclay

Genre: Dokumentation, Polit

Regie: Daniel Leconte, Emmanuel Leconte

Kinostart: 07.01.16

[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.