Originaltitel: MIDSOMMAR

USA/S 2019, 170 min
FSK 16
Verleih: Weltkino

Genre: Horror

Darsteller: Florence Pugh, Jack Reynour, Will Poulter

Regie: Ari Aster

Kinostart: 26.09.19

1 Bewertung

Midsommar

Filmischer Sonnenbrand

Es dauert keine zehn Minuten, da liegen die Nerven bereits blank. In seinem umjubelten Erstlingswerk HEREDITARY hat Regisseur Ari Aster noch schrittweise den Nervenkitzel gesteigert, dieses Mal ist schon der Prolog purer Terror, lange bevor das Beziehungsdrama auf den Sektenhorror trifft.

Wie in seinem Vorgängerfilm stürzt Aster anfangs eine Familie mit einem Schicksalsschlag ins Chaos. Tochter Dani, grandios gespielt von Florence Pugh, ist fortan schwer traumatisiert, die Beziehung mit ihrem Freund kriselt. Wann erlebt man es schon noch, daß ein Horrorfilm sich und sein Publikum so ernst nimmt, so tief in seinen Konflikt eintaucht? Aster gelingt das hier bereits zum zweiten Mal und erweist sich erneut als riesige Bereicherung für das Genre. Schadenfroh schickt er nun sein gescheitertes Liebespaar mit einer Clique (bewußt) unsympathischer Männer in den Entspannungs-Urlaub. Oder ist es doch nur ein Tapetenwechsel für das bevorstehende Zerwürfnis? Reiseziel ist ein schwedisches Dorf mitten im Nirgendwo, in dem ein 9tägiges Mittsommer-Fest bevorsteht, das so nur alle 90 Jahre gefeiert wird. Zu Recht, wie sich bald zeigt, denn neben Tänzen und geselligem Beisammensein stehen grausame Rituale auf dem Programm. Kleiner Tip: auf die Wandmalereien im Hintergrund achten! Da bekommt man es schon bei diesen kleinen Hinweisen auf das Bevorstehende mit der Angst zu tun, jede Einstellung birgt ihre Geheimnisse.

Wo sich das Horrorkino für gewöhnlich in der Dunkelheit wohlfühlt, ist MIDSOMMAR mit seinem lichtdurchfluteten schwedischen Märchendorf ein surrealer Gegenentwurf. Generell ist das alles mit seinem Verzicht auf Gewohntes in jeder Minute widerspenstig und eigen und absolutes Kontrastprogramm zum Großteil des modernen Horrorkinos. Allein der Umfang: mit knapp zweieinhalb Stunden extrem lang, aber eben nie langweilig. Die Horrorszenen gering dosiert, aber in ihrer Andersartigkeit unvergeßlich. Das ist nicht so gruselig wie das Debüt des Regisseurs und hat in seinem subtilen Spiel mit den Erwartungen definitiv das Zeug zum Publikums-Spalter, entwickelt sich aber zu einem wortwörtlich schwindelerregenden Trip.

MIDSOMMAR fühlt sich so an, als hätte man selbst zu lange in der Sonne gelegen und an den falschen Blüten gerochen. Kino für alle Sinne ist das! Allein die verstörende, symmetrische Puppenhaus-Ästhetik sorgt für Unbehagen, dann verabreicht Aster die Unmengen an Drogen und halluzinogenen Kräutertees, die hier konsumiert werden, auch dem Publikum. Alles flimmert, alles verschwimmt. Wenn benebelt bis zum Umfallen um den Maibaum getanzt wird, dann tanzt die Kamera mit. Übelkeitsgefahr!

Nebenbei ist das oft erstaunlich witzig, wenn die aufgeklärte westliche Welt plötzlich wieder mit archaischen Vorstellungen von Leben und Tod konfrontiert wird. Ja, man ist sogar besser beraten, wenn man von Anfang an eine schwarze Komödie erwartet, das Entsetzen gibt’s gratis dazu. Am Ende gipfelt der Tageslicht-Horror in einer vorhersehbaren emanzipatorischen Pointe und vergißt einige Figuren auf halber Strecke.

Dennoch kann man sich in diesem intelligenten, überragend inszenierten und wunderbar skurrilen Schreckens-Theater aus tanzenden, schreienden, dionysischen, nackten und deformierten Körpern verlieren. Prost oder besser gesagt: Skål! Auf den bisher besten Horrorfilm des Jahres!

[ Janick Nolting ]