Originaltitel: PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU

F 2019, 122 min
FSK 12
Verleih: Alamode

Genre: Drama, Poesie

Darsteller: Noémie Merlant, Adèle Haenel, Luàna Bajrami

Regie: Céline Sciamma

Kinostart: 31.10.19

5 Bewertungen

Porträt einer jungen Frau in Flammen

Jede Einstellung ein Gemälde – großes Kino als Gesamtkunstwerk

Die Beziehung zwischen Marianne und Héloise beginnt mit einer Lüge. Die junge Malerin soll die Tochter aus gutem Hause porträtieren, um ihrem unbekannten Zukünftigen einen Beweis ihrer Existenz zu kredenzen. Weil sich Héloise aber gegen die von ihrer Mutter arrangierte Hochzeit wehrt, gibt sich Marianne zunächst als Gesprächspartnerin aus. Ihr Ziel: die junge Frau aus dem Gedächtnis malen.

Es ist Ende des 18. Jahrhunderts. Marianne ist für ihren Auftrag mit dem Boot an die bretonische Küste in ein altes, halb verfallenes Schloß gereist. Landschaft und Wetter sind rauh und karg, so wie die Welt, in der sich die beiden Frauen zurechtfinden müssen. Die Gesellschaft sieht Frauen rein als Objekte, die nur in sehr seltenen Fällen über ihr Leben und Handeln selbst entscheiden dürfen. Marianne, die Tochter eines renommierten Pariser Malers, die von ihrem Vater das Handwerk lernte, hat Glück und kann autark leben, Héloise hingegen kann allein durch eine Heirat mit einer guten Partie das Gesicht ihrer Familie wahren.

Wie zwei Antipoden treffen die beiden aufeinander, und die darauffolgende emotionale Explosion bebildert die französische Regisseurin Céline Sciamma, die seit TOMBOY und BANDE DES FILLES international in aller Munde ist, in zwei großartigen Stunden. Dabei ist es eine langsame Annäherung. Lange Spaziergänge an der bretonischen Klippe und dem einsamen Strand, die ersten Blicke und Ideen, wie die Welt der anderen wirklich aussehen könnte. Jede Einstellung ist ein eigenes Gemälde. Sciamma entwirft große Tableaus, die der Leere und Ausweglosigkeit einen Rahmen geben. Héloise ist die quasi Inhaftierte, die es sogar im Kloster schöner fand, weil sie dort Zugang zu Büchern und Musik hatte. Im Schloß aber ist sie auf sich gestellt, ohne Kontakt zur Außenwelt, eine junge Frau in Ketten, die Marianne, indem sie sie malt, langsam aufbricht. Die meditativen Pinselstriche spiegeln die Bewußtwerdung der eigenen Identität durch ihre Abbildung – in Zeiten von sozialen Medien wirkt das besonders eindrücklich.

Als die Herzogin das Schloß für eine Weile verläßt, sind die jungen Frauen unter sich. In ihre eingeschworene Gemeinschaft nehmen sie die junge Zofe Sophie mit auf. Die Schranken, die die Gesellschaft ihnen auferlegt, existieren plötzlich nicht mehr. Niemand ist mehr Herrscherin oder Bedienstete: Sciamma erschafft eine kleine demokratische Welt, in der plötzlich echte Bindung entstehen kann. Das ist wunderschön anzusehen.

Besonders ist, daß dieser Film fast ohne Musik auskommt. Nur manchmal spielt Marianne selbst für Héloise, die bisher nur im Kloster geistliche Musik gehört hat. Obwohl Marianne die Lehrerin ist, die die Welt da draußen in Bilder und Klänge faßt, ist sie mit Héloise auf Augenhöhe. Sie lernen voneinander, bewundern einander. In der Schlüsselszene an einem großen Feuer, wo sich die Frauen des Dorfes treffen, verdichtet sich alles in ekstatischem Gesang, und Heloises Gewand steht plötzlich in Flammen. Enge gesellschaftliche Räume werden aufgebrochen, Luft strömt herein: „Wie fühlt es sich an zu lieben?“, fragt Héloise Marianne, bevor sie sich näherkommen.

Der Film ist ein Gesamtkunstwerk, ein höchst intimes Kammerspiel, und er ist auch eine Geschichte von Freundschaft, die trotz aller konventionellen Schranken ihren Lauf nimmt, und die uns viel über die alte Welt erzählt, auf deren Grundpfeilern wir heute noch leben. Sciamma fand zu einer Filmsprache, die sinnlich und poetisch ist. „Wie weiß man eigentlich, daß man fertig ist?“, fragt Héloise, als Marianne ihre letzten Pinselstriche macht. „Man hört einfach irgendwann auf.“

[ Claudia Euen ]