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Winter’s Bone

Über kleine Wunder oder Die Poesie des White Trash

Es gibt sie noch, die kleinen Wunder. Unter den vielen betrüblich stimmenden Nachrichten aus dieser verrückten Welt geben diese bescheidenen Lichtblicke immer wieder das berühmte Fünkchen Hoffnung, von dem der Mensch zehren kann. Kürzlich gab es einen solchen Hoffnungsfunken aus der Filmwelt, jener entrückten Sphäre im Spannungsfeld zwischen Leitkultur und Trivialtyrannei: Das Independent-Drama WINTER’S BONE war viermal für den OSCAR nominiert. So vorhersehbar und langweilend der Rest der abgeschmackten Starlobhudelei, so wohltuend die Honorierung dieses Films, dessen Besonderheit nicht einmal der konservativen Academy entgehen konnte. Wie auch, nachdem der filmische Rohdiamant in Sundance und auf der Berlinale beinahe jedem Zuschauer der beurteilenden Zunft sofort ins Auge stach, trotz nahezu null Starpower und ziemlich düsterer Geschichte. Düsternis hin oder her, die simple, herzergreifende Story glänzt durch die steinkalte Oberfläche einfach hindurch.

Eine Geschichte, wie sie nur Amerika hervorbringen kann (und die dennoch überall spielen könnte), weil dieses harte Land nun einmal immer noch, auch über 100 Jahre nach der Geburt des Western, wie kein anderes den Schmelztiegel menschlicher Extreme darzustellen vermag. Und deshalb auch eine Geschichte, wie sie besonders das amerikanische Kino bitter nötig hat, wenn es denn filmkünstlerisch wieder an die Zeiten heranreichen will, in denen einst die kleinen großen Wunder des sogenannten New Hollywood entstanden. Ja, dieser Film stimmt nostalgisch, aber auf eine gute Art.

Ein Mädchen muß seinen Vater finden. Unbedingt. Denn ihr Erzeuger hat das Haus, in dem Ree Dolly – so heißt das Mädchen – zusammen mit ihrer durch psychische Krankheit gelähmten Mutter und den beiden jüngeren Geschwistern lebt, als Kaution hinterlegt und ist danach spurlos verschwunden. Als Jessup, so der vielsagende Name des Abtrünnigen, auch zu seinem Gerichtstermin nicht erscheint, droht das Heim der sowieso schon am Existenzminimum lebenden Familie gepfändet zu werden. Also begibt sich Ree auf die Suche nach ihm. Eine beschwerliche Suche, denn der Dolly-Clan, einer sich vor allem durch Crystal-Meth-Produktion finanzierenden Familienbande, haßt nichts mehr, als geheime Dinge zu verraten. Und wie es sich nun mal zuträgt, ist Jessups Verbleib eben eines jener geheimen Dinge, wie Ree bald auf schmerzhafte Weise herausfinden muß.

Ree und alle Charaktere dieses „Country Noir Thriller“ (New Yorker) sind bis ins Mark von dem Ort geprägt, an dem sie ihre mühsame Existenz fristen. Das Hinterland von Missouri, wo der White Trash des Bible Belt bis zum Himmel stinkt. Wo sich die rostigen Pick-Up-Trucks in den Vorgärten stapeln, die Veranden sich vor Müllbergen nur so biegen, und jeder Hausbesitzer oder -besetzer schneller eine Schrotflinte zur Hand hat als Elmer Fudd. Eine der Hauptleistungen von Regisseurin Debra Granik ist es, bei ihren Dreharbeiten an Originalschauplätzen in Missouris Backwoods Bilder gefunden zu haben, welche die Poesie dieser verborgenen Winkel der amerikanischen Zivilisation herausfiltern, anstatt sich an dem Spektakel extremer Armut zu ergötzen. Ein Kunststück, das viel Sensibilität verlangt. So wie auch das Casting. Neben vielen exzellenten Laiendarstellern haben die bisher kaum bekannten Profis ihren hochverdienten Auftritt im Rampenlicht. Hauptdarstellerin Jennifer Lawrence’ reduzierte, fulminante Darstellung muß man gesehen haben, um zu verstehen, warum Natalie Portman trotz sehr guter Leistung in BLACK SWAN die falsche Wahl für den OSCAR war.

Und dann ist da John Hawkes als Jessups Bruder Teardrop. Ein Mann, der trotz mickriger Körperstatur dermaßen bedrohlich wirkt, daß man zunächst aus dem Saal flüchten möchte, und der einen am Ende aber getreu des Namens zu Tränen zu rühren vermag. Auch Hawkes war OSCAR-nominiert. Eine feine Sache. Das tatsächliche kleine verdiente Wunder wäre aber, wenn dieses zeitlose und trotzdem so zeitrelevante Werk seinen Weg zu internationalem Ruhm hier, im zum Glück noch sozialnetzgesicherten Deutschland, fortsetzt. Dazu beizutragen, sei hiermit auf Wärmste empfohlen.

Originaltitel: WINTER’S BONE

USA 2010, 100 min
Verleih: Ascot

Genre: Drama

Darsteller: Jennifer Lawrence, John Hawkes, Garret Dellahunt, Dale Dickey, Sheryl Lee

Regie: Debra Granik

Kinostart: 31.03.11

[ Paul Salisbury ] Paul mag vor allem Filme, die von einem Genre ausgehen und bei etwas Neuem ankommen. Dabei steht er vor allem auf Gangsterfilme, Western, Satire und Thriller, gern aus der Hand von Billy Wilder, Sam Peckinpah, Steven Soderbergh, Jim Jarmusch, den Coen-Brüdern oder Paul Thomas Anderson. Zu Pauls All-Time-Favs gehören DIE GLORREICHEN SIEBEN, TAXI DRIVER, ASPHALT COWBOY, SUNSET BOULEVARD, POINT BLANK ...