Von jungen Kämpfern, ungleichen Zwillingsbrüdern, einem Neuanfang zwischen Särgen und wutentbrannten Pumpgun-Clowns

Ein Rückblick auf das 29. Filmfest München

[ 28.07.2011 ] So kann man Servus sagen! Nach acht Jahren gab Filmfestleiter Andreas Ströhl seine Abschiedsvorstellung, die zu einem der besten Jahrgänge des Filmfests an der Isar seit langem taugte. Selten zuvor war man derart gefordert, alles bestens zu „timen“ – und verpaßte dabei dennoch manch interessanten Film. Aber genau das macht eben eine gute Filmfestedition aus, so liegt die Meßlatte entsprechend hoch, wenn im kommenden Jahr Diana Iljine, die neue Festivalleiterin, die Jubiläumsausgabe gestalten darf.

Schon der Einstieg war ein gut gewählter, weil man sich mit DER JUNGE MIT DEM FAHRRAD für einen Film entschied, der zum einen anspruchsvoll, in einigen Momenten durch seinen Neorealismus durchaus auch kantig, immer fesselnd und in seinen märchenhaften Momenten geradezu entzückend war. Und letzteres Attribut hätte man mit den Dardenne-Brüdern, die ja eher der filmischen Bodenhaftung verschrieben sind, sicher nicht in Verbindung gebracht. Doch hier greift auch das. Die Belgier erzählen die Geschichte des 11jährigen Cyril, dessen Mutter nicht mehr lebt, der vom Vater verstoßen und ins Kinderheim abgeschoben wurde. Doch Cyril ist trotz der Augenringe und der an sich todtraurigen Situation kein schwacher Junge. Er ist immerzu am Kämpfen – um die Liebe des Vaters, um die Zuneigung der Friseurin Samantha, die sich als Ersatzmama empfiehlt, um sein Fahrrad, das ihm gestohlen wird. Kurz vor Schluß droht Beunruhigendes, doch da sich die Dardennes wie erwähnt auch im Märchenhaften behaupten, gibt es am Ende eine Handvoll Hoffnung.

Unglaublich, wie es den Filmemachern gelingt, neben dem Fabulieren eines ergreifenden Schicksals noch stetig an der Spannungsschraube zu drehen, und dies rein aus der Entwicklung ihrer Figuren heraus, was natürlich vor allem auch deswegen klappt, weil sie mit Thomas Doret einen verblüffenden Darsteller gefunden haben. Und: Es könnte der erste Dardenne-Film sein, der durch seine enorme emotionale Kraft ein größeres Publikum finden wird. Zu wünschen wäre dies in jedem Fall!

Von einem, der kämpfen muß, erzählt auch ATMEN, das Regiedebüt des österreichischen Schauspielers Karl Markovics. Wir lernen darin Roman kennen, fast noch ein Junge, von seinen gerade einmal 19 Lebensjahren hat er die letzten fünf im Jugendgefängnis verbracht, weil er einen Gleichaltrigen erschlug. Roman ist Einzelgänger, stoisch, im Berufsleben schwer vermittelbar. Erst als er sich auf eine Stellenanzeige eines Bestattungsunternehmens meldet, findet er einen einen Neuanfang im Leben. Über die originelle Metapher hinaus erzählt Markovics ganz allgemein von der Schwierigkeit des Seinen-Platz-Findens, von Schuld und fehlender Mutterliebe. Roman macht sich nämlich auf, die Frau zu finden, die ihn als Kleinkind einst verstieß. Und wie bei den Dardennes ist es auch hier der Hauptdarsteller, der verblüfft. Wie Thomas Schubert diesen beinahe erstarrten, in wenigen Momenten vom Jähzorn verführten jungen Mann gibt, das geht wirklich nahe. Und Markovics hat nicht nur als Regiedebütant mit Bravour die Seiten gewechselt, sondern einmal mehr gezeigt, was das österreichische Kino derzeit ausmacht.

Dazu gesellt sich der bereits in Cannes großes Aufsehen erregende MICHAEL von Markus Schleinzer, ein Film, dessen exponierte Nüchternheit, Kraßheit in Geschichte und Härte im Schnitt ganz deutlich in die Nähe Michael Hanekes zu verorten sind, für den Schleinzer bereits als Caster tätig war. MICHAEL blickt in den Alltag eines gestörten Mannes, ein Alltag, der sich als Chronik des Horrors erweist, je tiefer man in die Geschichte eintaucht. Der Versicherungsangestellte Michael, 35, alleinstehend und äußerlich der perfekte Biedermann, lebt seit Monaten nicht allein – er hat den 10jährigen Wolfgang entführt, hält ihn in einem Kellerverschlag gefangen, kocht für ihn, ißt mit ihm, geht auf den Rummel, besucht den Tierpark, feiert Weihnachten und mißbraucht das Kind in einer ritualisierten Regelmäßigkeit. Dieses wertungsfreie Erzählen, dieses – wie Haneke es auch tut – Fernhalten von jeglichem Moralisieren erzielt beim Betrachter genau die Wirkung, die Schleinzer beabsichtigte: Man ekelt sich vor dem kranken Spießer, vor der Egomanie eines Zukurzgekommenen, man ist gelähmt ob der Normalität des Bösen. Ein Film, der einem lange nachgeht.

Interessant war auch der amerikanische Beitrag A LITTLE CLOSER, auch hier stehen Kinder im Mittelpunkt, und es hat sich tatsächlich im Kino etwas getan. Die jungen Protagonisten nerven nicht mehr als schlaumeiernde, frühreife Plagen, sie dienen nicht nur als Staffage für die immergleichen Frau-sucht-Mann-sucht-Frau-Geschichten, die Hollywood derart inflationär durchgeleiert hat, daß man schon Abstand hielt, wenn Kinderdarsteller aufs Plakat gepackt wurden. Im Langfilmdebüt des noch jungen Matthew Petock blicken wir auf eine Kleinfamilie – Mutter und zwei Söhne. Und alle drei sind auf der Suche. Nach Liebe, nach Anerkennung, nach dem ersten Kuß, dem ersten Sex, dem ersten aufrichtigen Mann, der Vater und Liebhaber sein könnte. Petock entschied sich für einen nüchternen, geerdeten und keinesfalls durch romantisierenden Schnickschnack ausgeschmückten Erzählstil. Eine seiner Geradeaus-Botschaften ist „Life Sucks“, und da hat er für bestimmte Lebensphasen einfach recht. Das Leben ist weder nur gut oder schlecht, gerecht gleich gar nicht, „It Sucks“ in manchmal schwer zu verdauender Dosis. Und nach neuerlichen oder niederschmetternden ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht sind Sheryl, der 11jährige Stephen und der 15jährige Marc wieder bei sich – als doch ganz gut funktionierende Kleinfamilie.

Überraschend war ohnehin die Rückkehr des amerikanischen Independent-Kinos. Es werden wieder unabhängig erzählte und finanzierte Filme gedreht, das ist toll und führte zu einem geradezu herrlichen Film namens HESHER, auch der ein Langfilmdebüt übrigens, hier von Spencer Susser. Der Titelheld ist einer, den man nicht freiwillig in seine Hütte lockt, doch der Teenager T.J., sein Vater und seine Oma hatten gar keine Wahl – eines Tages saß der Kiffer und Pornofreund Hesher auf der Couch der Forneys. Daß ausgerechnet dieser abgewrackte Typ für positive Veränderung und nach dem Tod von T.J.’s Mom dringend benötigten Lebensmut sorgen wird, ist kaum vorstellbar, steht aber für die Unberechenbarkeit dieses Films. Neben der schrägen Invasion eines Barbaren und den daraus entstehenden Konflikten entpuppt sich HESHER als einer der ungewöhnlichsten Filme über Trauer. T.J. wird auch seine geliebte Oma verlieren, und ausgerechnet der Eindringling löst mit dem Jungen ein gegebenes Versprechen ein. Und selbst der seit dem Tod seiner Frau unrasierte, eingekapselte Paul wird seinen Bart ablegen und

frische Kleidung tragen. Ungewöhnlich erzählt, mit Joseph Gordon-Levitt und Nathalie Portman prominent besetzt, ist es einfach so wieder da – das American Independent Cinema. Und sicher nicht nur in München.

Auch RABBIT HOLE reiht sich da bestens ein – ebenso mit Starbesetzung. Wobei man ergänzen muß, daß man in den ersten Szenen Nicole Kidman nicht sofort erkennt. Das war mindestens ein Gang zu viel in die heiligen Praxisräume der kalifornischen Schönheitschirurgen. Doch dieser äußerliche Makel gerät in den Hintergrund, weil die Kidman das tut, was sie nach dem Befreiungsschlag von Tom Cruise bereits mehrfach tat – grandios spielen. Hier gibt sie Becca Corbett, eine Frau in den besten Jahren, wie man so sagt, allerdings in der schwersten Zeit, die ein Mensch durchleiden muß: Beccas kleiner Sohn Danny starb bei einem Autounfall. Seitdem erträgt sie die Tage nur noch, selbst ihr Mann, der ebenfalls trauert, kann ihr die verschütteten schönen Seiten ihres gemeinsamen Lebens kaum mehr aufzeigen. Als sich Becca mit dem jungen Mann trifft, der Danny überfahren hat, wird die ohnehin schwer geprüfte Ehe an den Rand ihrer Belastungsfähigkeit geführt.

John Cameron Mitchell hat nach dem schrägen HEDWIG AND THE ANGRY INCH und dem skandalumwitterten SHORT BUS einen sehr reifen Film über Trauer, Verlust und die Schwierigkeit des „Weitermachens“ gedreht. Er erzählt bewegend von einer Zeit der Hoffnungslosigkeit. Und von einer geradezu körperlich spürbaren Ohnmacht. Die offenbart sich in schierer Hilflosigkeit, wenn Howie – auch sexuell – versucht, sich seiner traumatisierten Frau zu nähern. Becca wehrt jedoch ab, worauf Howie sagt: „I Tried To Make It Nice.“ Sie entgegnet: „You Can’t! Things Aren’t Nice Anymore!“ Womit sie recht hat, der Verlust wahrhaftig geliebter Menschen ist durch nichts wieder

„wettzumachen“, das Stigma bleibt ein Leben lang, und jeder Neuanfang erweist sich als schwierig. Zum Glück aber nicht als komplett unmöglich, wofür der Hausverkauf der Corbetts schon mal taugt ... RABBIT HOLE ist großes Schauspieler- und Gefühlskino ohne Weichzeichnerei. Und findet hoffentlich noch in die deutschen Kinos.

Ein Fest für die Augen und ein Schlag in den Bauch war der wüsteste, in seiner rohen Leidenschaft aber auch beeindruckendste Filmfestbeitrag, der einmal mehr vom spanischen Kinowüterich Álex de la Iglesia kam: In BALADA TRISTA DE TROMPETA erzählt er von der Rivalität zweier Clowns, denen die Artistin Natalia das Herz gebrochen hat. Und weil es ein Film von de la Iglesia ist, wird dieser Kampf nicht ausgefochten, indem sich die Berufskasper mit roten Plastiknäschen bewerfen, da werden richtige Geschosse rausgeholt: Pumpguns, Säure, Bügeleisen! Hier wird von Liebe und Passion erzählt, wie es eben nur de la Iglesia kann: überbordend, mit hohem Trash-Appeal und augenzwinkernden historischen Querverweisen auf Franco & Co. Das Resultat ist eine hysterische, laute, brutale, gar nicht zur Kinderbespaßung taugende

Kinooper, die man erst einmal verdauen muß.

Hart ging es auch in einem deutschen Beitrag zu: KRIEGERIN erzählt von einer Menschwerdung. Aus dem wütenden, ultrabrutalen Neonazimädchen Marisa wird schrittweise eine andere, nachdenklichere Person, als sie auf den afghanischen Flüchtlingsjungen Rasul stößt. Regisseur David Falko Wnendt erzählt eine generell interessante Geschichte, die den Zuschauer durch die authentisch wirkenden Übergriffe auf Ausländer an den Rand des Ertragbaren führt. Leider war Wnendt vor mancher Klischeefalle nicht gefeit, und zu bedauern ist, daß ihm gerade das Kernstück, die „Freundschaft“ zwischen dem Reenie-Mädchen und dem Jungen, teilweise aus dem Sichtfeld geriet. Da hätte bereits im Drehbuch für mehr Stringenz gesorgt sein müssen. So bleibt KRIEGERIN sicherlich hinter dem ansatzweise vergleichbaren FÜHRER EX zurück, geht als Erstling aber trotzdem recht beachtlich durchs Ziel und kann zweifelsohne mit zwei herausragenden Darstellern aufwarten: Alina Levshin als Nazibraut bekam dafür auch den Schauspielpreis auf dem Filmfest, den hätte indes auch Sayed Ahmad Wasil Mowrat als Rasul verdient.

Filmfestzeit ist ja auch immer Dokfilmzeit, und da fielen in diesem Jahr zwei Beiträge auf: Von Brüdern, die trotz des Filmtitels TWIN BROTHERS nicht verschiedener sein könnten, erzählte Axel Danielson, der seine Neffen im Alter von 9 bis 19 Jahren mit der Videokamera begleitet hat. Beide sind hübsche Jungs, blond, blauäugig – und doch sehen sie ganz verschieden aus, denn während Gustav von normaler Statur ist, leidet Oskar unter Zwergwuchs. Danielsen läßt die Kinder erzählen, was sie einmal werden wollen, filmt sie beim Fußball und Schanzenspringen mit dem Fahrrad, beim ersten Betrinken und Kiffen, mit der ersten Freundin. Er filmt zwei Brüder, die sich verstehen, zwischen denen es erst mit der Pubertät zu Reibungen kommt – ganz normal also. Und das ist auch das Gute an der Doku, daß der körperliche Unterschied vorerst nicht weiter benannt wird, interessant ist, daß es am Ende Oskar ist, der vernunftbegabter ist, trotz wüster Punkfrisur und heftigem Streit mit Mama. Er wird Zivildienst machen, ist offener für Menschen als Gustav, der sich in der Landwirtschaft versucht. Letztendlich ist es ein Film über die Normalität in der Beziehung zwischen zwei Brüdern. Das ist bei der Grundkonstellation eine ganz wunderbare Aussage.

Für Begeisterung sorgte auch die Anwesenheit einer Dame, die den sie porträtierenden Film THE LOOK höchstpersönlich vorstellte: Charlotte Rampling. Sie strahlte vor Ort genau das aus, was Angelina Maccarone mit ihrem interessanten Film einzufangen gelang – Größe. Und dabei wird deutlich, daß dieses Porträt überfällig, aber bisher wohl nicht machbar war, weil La Rampling an sich eher sparsam mit privaten Einblicken ist. Und so nutzte Maccarone einen Kunstgriff, indem sie es zu Begegnungen mit Wegbegleitern und Freunden Ramplings kommen ließ. Dazu gehören unter anderem der Autor Paul Auster und die Fotografen Peter Lindbergh und Jürgen Teller. Da wird klug und unterhaltsam über das Altern, die Nacktheit und auch den Tod parliert, und Rampling besticht einmal mehr durch intelligente Anmerkungen über die Absurdität unserer Existenz.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.