Bild: Der letzte Wolf

Selbstbestimmter Abschied, Königstöchter im Puff und der Zorn der Jugend

Ein Rückblick auf das 33. Filmfest München

[ 31.07.2015 ] Es ging mit Störgeräuschen schon los. Der Trailer zum 33. Filmfest München war etwas altbacken, das kennt man aber schon von Filmfestjingles schon. Um das ein wenig zu kaschieren, pappten die Macher irgendwie Elektro-Gekratze drüber, welches – abhängig von der Tonausstattung des Kinos – mindestens aber höchst unangenehm im Ohr schabte. Nun ist ein Filmfest kein Hörspielsommer, Schwerpunkt soll daher auf dem liegen, was fürs Auge geboten wurde. Und da mußte man bei der diesjährigen Ausgabe des an sich schönsten deutschen Festivals schon genauer als in den Vorjahren suchen.

Und wenn man dann doch fündig wurde, war man nicht selten allein. Oder fast, denn es fühlt sich schon sehr einsam an, wenn ein Weltstar wie Paprika Steen ihren sensiblen Film SILENT HEART gewissermaßen als Privataudienz im gähnend leeren Kino präsentiert. Es waren in der Tat spürbar weniger Leute unterwegs, um sich der Filmkunst zu widmen, was die Branche schon frotzeln ließ, daß es sicherlich am Ende wieder eine Pressemitteilung geben wird, die vom Besucherzuwachs kündet. Diese gab es dann tatsächlich ... Egal, den dann doch entdeckten und wirklich sehenswerten Filmen soll sich nun zugewandt werden, und, wie gesagt, SILENT HEART unter der Regie von Bille August ist einer von ihnen. Es wird vom freiwilligen Sterben erzählt, und wie das eben wohl nur die Dänen können – mit Humor. Und Tränen. Und Zuversicht. Esther, von der großen Ghita Nørby gegeben. ist um die 70, an ALS erkrankt, sie will selbstbestimmt sterben und lädt zum Abschied die Familie in ihr Haus. Natürlich ist dieses letzte gemeinsame Abendessen beklemmend, interessant geriet aber auch, wie sich Konflikte der einzelnen Familienmitglieder plötzlich entladen – vom Enkel bis zum Schwiegersohn, und vor allem kracht es zwischen den Töchtern Esthers, von denen eine von Paprika Steen ganz groß gegeben wird.

Ghita Nørby war in einem weiteren vom Abschied erzählenden Film zu sehen: KEY HOUSE MIRROR. Da spielt sie die Frau eines schwer vom Schlaganfall gezeichneten und schließlich im gemeinsam bewohnten Pflegeheim sterbenden Mannes, die sich dann doch noch einmal neu verliebt. Aber nicht nur in der Verliebtheit verliert Lily jegliches Zeitgefühl – sie glaubt sich noch recht neu im Heim, ist aber wohl schon einige Jahre hier. Alzheimer wurde bei ihr diagnostiziert. Natürlich zerreißt es einem fast das Herz: die neue Liebe, die plötzliche Ohnmacht, die Verwirrung, das Gefangensein und die Erkenntnis, wie weit der Sehnsuchtsort Paris sein kann. Aber Regisseur Michael Noer findet genug Momente, die leicht sind, die einem helfen, sich derartiger Thematik im Kino nicht zu verweigern. Es sind Filme übers Leben, weil sie auch vom Tod erzählen.

Von schmerzlichem Verlust, schwieriger Annäherung und komplizierter Wahrheit erzählte auch der Norweger (schon wieder ein Skandinavier) Joachim Trier in LOUDER THAN BOMBS – und dies starbesetzt mit einer umwerfenden Isabelle Huppert und einem interessant gealterten Gabriel Byrne. Fragmentarisch und mit klug montierten Versatzstücken hilft die bruchstückhafte Herangehensweise dem Zuschauer analog zu den drei männlichen Hauptfiguren aus Vater und Söhnen mit dem Freitod Lauras, eine erfolgreiche Kriegsfotografin, klarzukommen. Das Mittel des Puzzles erlaubt der Trauer, sich auf leisen Wegen Bahn zu brechen. LOUDER THAN BOMBS kommt zum Jahresende in die Kinos, der Film über Wut, Trauer, Sprachlosigkeit und die Schwierigkeit familiären Zusammenfindens im Angesicht einer großen Tragödie ist eine absolute Empfehlung!

Es gab natürlich auch rein Vergnügliches zu sehen, und da bot beispielsweise A ROYAL NIGHT Unterhaltungskino par excellence. Julian Jarrold läßt die Töchter Lizzy und Mags von König George VI. – genau, der Stotterkönig aus THE KING’S SPEECH – in die Londoner Wirren der Nacht vom 8. Mai 1945 stürmen, und die Konfrontation der zukünftigen Königin Elizabeth und deren Schwester mit ganz normalen jubelnden Menschen, schweren Ganoven und leichten Mädchen, dem Geruch von Gosse und verrauchten Kneipen ist mit pointiertem, bestens getimetem Witz erzählt, und Rupert Everett als der erwähnte König ist seit langem mal wieder in einer markanten, wenn auch gegen den Strich besetzten Rolle zu erleben.

Ein ganz anderes, weitaus derberes Vergnügen bot DIE KLEINEN UND DIE BÖSEN von Markus Sehr. Er taucht tief ein in den Wahnsinn, dem der Bewährungshelfer Benno jeden Tag mit ziemlich kaputten Typen wie diesem Hotte ausgesetzt ist, wobei die Grenzen von Dienst und Privatem schon längst verwischt sind. Sehr fährt ein gutes Tempo auf, dazu schrägen und manchmal auch ordinären Witz, und er kann sich in der Kleinganoven- und Gutmenschenkomödie auf das perfekte bis schon arg uneitle Spiel von Christoph Maria Herbst und Peter Kurth verlassen.

Gutes deutsches Kino kam auch mal wieder vom emsigen Wunderbärchen Axel Ranisch. Er brachte ALKI ALKI an die Isar, eine astreine Tragikomödie über einen Menschen am Abgrund. Tobias ist Säufer und an seiner Seite, in seinem Ohr, auf seinem Suchtauslöser hockt eine intrigante, imaginäre Type namens Flasche. Und von der kommt Tobias eben nicht so einfach los ... Ranisch erzählt vom puren Exzeß in schon märchenhaften bis auch ziemlich brutalen Bildern, er stellt dem schwer von seiner Sucht gepeinigten Tobias einen von Robert Gwisdek gegebenen Troubador an die Seite, der minnesängergleich die Teufelskreisballade derart wiedergibt, daß das Schicksal Tobias’ zwar spielerisch umrahmt, aber die scheinbare Unentrinnbarkeit zugleich verstärkt wird.

Richtig großes Kino gab es von einem, der nun wirklich etwas davon versteht: Jean-Jacques Annaud. DER LETZTE WOLF taucht ein ins Jahr 1967 und heftet sich an die Fersen des chinesischen Studenten Chen Zhen, der in die Innere Mongolei entsandt wird, um das Leben und die Traditionen der Nomaden zu studieren. Daß er dabei Wölfen begegnet, ist gesetzt, daß es ein Kampf ums Überleben wird, war nicht abzusehen. Chen Zhen versteckt einen Wolfswelpen vor den das Raubtier jagenden Dorfbewohnern. Der Anfang einer Katastrophe. Prächtige Landschaftsaufnahmen, krasse und surrealistische Bildern von Tierkadavern im Eis, und natürlich garnieren auch ein paar Niedlichkeitsmomente eine an sich schlichte, aber wirkungsvoll und mit Leidenschaft erzählte Geschichte vom großen Mißverständnis zwischen Mensch und Tier. Annaud nimmt dabei aber wirklich wenig Rücksicht auf die Familienkinotauglichkeit, wenn er Bilder von Opfergaben und manch’ anderem blutigen Ritus auffährt. Und trotzdem und gerade auch deswegen sei der Film doch vielen empfohlen, denn DER LETZTE WOLF ist pures Kino aus dem Bauch, noch dazu welches, bei dem 3D endlich mal wieder sinnvoll ist.

Starkes Kino aus Frankreich gibt es traditionell beim Filmfest, und in diesem Jahr gehörte ein Mitbringsel aus Cannes dazu: LA TÊTE HAUTE. Catherine Deneuve in einer wunderbaren Altersrolle spielt eine Jugendrichterin vor der Pensionierung. Das Schicksal von Malony liegt der Beamtin sehr am Herzen, und sie sucht ernsthaft nach Wegen, um den Jungen aus dem Hamsterrad zwischen Ausrastern, Gericht und Jugendstrafe zu kriegen. Deneuve arbeitete nach MADAME EMPFIEHLT SICH wieder mit Emmanuelle Bercot zusammen, diese Kooperation ist aber alles andere als entspannte Kinokunst. Wie ein Schlag in die Magengrube wird von Zorn und Unberechenbarkeit des Jungen erzählt, ohne Weichmacher, ohne klare Sympathieverteilung. Rauh, oft hoffnungslos und von immenser Düsternis arbeitet sich der Film am Schicksal eines in den falschen Umständen Geborenen ab. Der jugendliche Rod Paradot gesellt sich in seinem Spiel durchaus an die Seite von MOMMY-Antoine-Olivier Pilon.

Und zum Schluß noch etwas ganz Feines, eine Genreperle, die im derzeit so wenig cinephilen Deutschland leider mal wieder nur für die private Glotze verramscht wird: LA FRENCH mit dem ziemlich geilen und für den Film noch mal schön aufgetuneten Gegenspieler-Doublepack Jean Dujardin und Gilles Lelouche ist die französische Perspektive des Klassikers FRENCH CONNECTION. Marseille soll sauberer werden, ohne Drogen, Nutten und Korruption. Kommissar Pierre Michel scheint der richtige Mann dafür zu sein, doch die Mafia ist wie ein Oktopus, der die ganze Stadt inklusive Bürgermeisteramt aufs Herzlichste umarmt. Sexy, hart, kompromißlos, im feinsten 70er Jahre-Look und in einer sogartigen Spannung geriert sich Cédric Jimenez’ Film wie Kino aus einer ganz anderen, tatsächlich vergangen geglaubten Kinozeit.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.