Originaltitel: THE WINDOW IN STOCKHOLM

S/D 2025, 98 min
Verleih: Farbfilm

Genre: Dokumentation, Biographie

Regie: Wilfried Hauke

Kinostart: 22.01.26

Astrid Lindgren – Die Menschheit hat den Verstand verloren

Kriegstagebücher einer hellwachen Beobachterin

„Schade, daß niemand Hitler erschießt“, schreibt die junge Astrid Lindgren irgendwann in ihr Tagebuch, das sie nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs anfing zu schreiben. Persönliche Einträge, Briefe und Zeitungsartikel dokumentieren von 1939 bis 1945 die Auswirkungen des Krieges auf eine gewöhnliche schwedische Familie. Damals war von Lindgrens kommendem Weltruhm noch nichts zu ahnen. Sie war Ehefrau und junge Mutter, später arbeitete sie für den schwedischen Nachrichtendienst. Für ihn las und zensierte sie Briefe, welche die Soldaten von der Front schrieben. Eine „dreckige Arbeit“, wie sie selbst sagte, aber eben auch eine, die ihr tiefe Einblicke in den Verlauf des Krieges gewährte.

2015 veröffentlichten die Nachfahren der Schriftstellerin ihre damaligen Tagebücher. ASTRID LINDGREN – DIE MENSCHHEIT HAT DEN VERSTAND VERLOREN zeichnet ihren Inhalt nun filmisch nach. Dabei greift Regisseur Wilfried Hauke auf einen sattsam bewährten Dreiklang aus Interviews mit Familienangehörigen, Archivaufnahmen und Reenactment-Szenen zur Bebilderung der Tagebucheinträge zurück. Trotz der recht biederen TV-Anmutung des Dokumentarfilms vermag die Tagebuchschreiberin Astrid aber zu fesseln.

Als hellwache Beobachterin kommentiert sie die Kriegsereignisse, Hitler erscheint ihr im Vergleich mit Stalin lange als das kleinere Übel. Neben solchen zeitgeschichtlichen Betrachtungen werden auch persönliche Belange notiert: Pippi Langstrumpf wird als Fiebertraum ihrer Tochter Karin geboren und nimmt bald ein Eigenleben an. Ihre Ehe mit Sture Lindgren erleidet erste Risse. Und doch ist sich die Verfasserin ihres sicheren und privilegierten Lebens inmitten von so viel Leid und Elend in der Welt stets bewußt. In den letzten Kriegsjahren gilt ihr Mitleid auch der deutschen Zivilbevölkerung. 

Ein tiefer Humanismus zieht sich durch die Aufzeichnungen Lindgrens, der später ihre Kinderbücher so entscheidend prägt. Mögliche Parallelen der damaligen Zeit zur heutigen Weltlage werden leider zu kurz angerissen. Wer darüber hinaus mehr über die angehende Schriftstellerin erfahren will, dem sei ergänzend und wärmstens das erhellende Biopic ASTRID von Pernille Fischer Christensen empfohlen.

[ Dörthe Gromes ]