Originaltitel: CAPHARNAÜM

Libanon 2018, 121 min
FSK 12
Verleih: Alamode

Genre: Drama, Schicksal

Darsteller: Zain Al Rafeea, Yordanos Shiferaw

Regie: Nadine Labaki

Kinostart: 17.01.19

5 Bewertungen

Capernaum – Stadt der Hoffnung

Kaum geboren, schon verloren

Der nächste allegorisch-religiöse Filmtitel drängt in unser Kinobewußtsein. So einen vergibt man nicht, man verleiht ihn. Capernaum erinnert zunächst an einen Wohnort von Jesus in Israel, will aber als „Chaos“ interpretiert werden, als „Unordnung.“ Für Regisseurin Nadine Labaki, die bereits 2007 mit CARAMEL überzeugte, beschreibt er den Arbeitsprozeß. Das, was sie mit Wut und Wucht erzählt, ist trotzdem mehr. Größer. Gewichtiger. Umstrittener.

Zugegeben, eine steile These: Geburtenkontrolle durch die Anklage von schon Geborenen. Mädchen und Jungen bringen ihre Eltern vor Gericht, weil sie diese Kinder in die Welt gesetzt haben und nicht so für sie sorgen, wie es nötig wäre. Zain, ein offiziell auf zwölf Lebensjahre geschätzter syrischer Junge, der mit seiner Familie illegal im Libanon lebt, bündelt in diesem Schritt all seine Verzweiflung. Er selbst wurde zu fünf Knastjahren verurteilt, weil er jenen „Hurensohn“, niedergestochen hat, der seine 11jährige Schwester Sahar „vom Markt“ nahm und für ein paar Hühner zu seiner Frau machte. Die Eltern? Wollten den Deal. Zain klagt für Sahar mit.

Es ist natürlich eine Projektion von außen, Sinnbild für Hilf- und Sprachlosigkeit und Verweis auf die wahren Gründe für Kinderreichtum gerade in prekären Lebensverhältnissen. Systeme und Religionen sitzen auf der Anklagebank. CAPERNAUM – STADT DER HOFFNUNG ist aber kein Justizdrama, schnell wechselt die Libanesin Labaki auf die Beschreibung uferloser Not, was ihr mit stehenden Ovationen in Cannes auch jede Menge Schelte einbrachte. Sogar von „Elendsporno“ war schon die kritische Rede. Natürlich, der Film besitzt diese Fallhöhe, weil er seine Botschaft nicht eine Sekunde lang verklausuliert und sich die Momente seines deutschen Untertitels schwer erkämpfen muß.

Die Blicke des schmalen Jungen auf den kleinen Schulbus sind gierig und traurig. Zain muß arbeiten, was ihn altklug macht in Gebaren und Worten. „Willst Du meine Faust kosten?“, entfährt es ihm im Groll des Augenblicks. „Dieses Land macht mich fertig“, klingt fremd aus seinem Mund. Wie mechanisch verläßt er die elterliche Wohnung und zieht zur ebenfalls illegal im Libanon lebenden Äthiopierin Rahil. Dort in der Barackensiedlung hütet er ihren einjährigen Sohn Yonas, wenn sie putzen geht.

Papier wird zum Schlagwort von Existenz und Nichtexistenz. Geburtsurkunden, Aufenthaltsgenehmigungen, Ausweise, auch Rezepte. Denn Zain macht das, was er daheim erlebt hat: Er besorgt sich das Opioid Tramadol, zerbröselt die Tabletten und verkauft sie, in Wasser aufgelöst und kleinen Dosen, als Saft. Als Rahil nicht mehr heimkommt, wird er Yonas instinktiv betreuen, aus der Not muß Tugend werden. Zain mischt Zucker und Wasser zu Eiswürfeln, wird Yonas am Fuß anbinden, damit er nicht türmt. Hat er alles gesehen – zu Hause. Doch was bedeutet das? Zain karrt Yonas in einer beuligen Schüssel durch Beirut, schützt ihn und erliegt schließlich doch dem Drängen eines Händlers, der vorgibt, ihm die Flucht ins Ausland zu organisieren, vor allem aber ein Geschäftsauge auf Yonas geworfen hat.

Die Figuren von CAPERNAUM – STADT DER HOFFNUNG agieren dicht am Selbsterfahrenen. Es ist Hauptdarsteller Zain Al Rafeea, der alles erfüllt, was es für den Herzensbruch im Kino braucht. Im echten Leben ist es Norwegen geworden, wo Zain jetzt Heimat sucht.

[ Andreas Körner ]