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Das Blaue vom Himmel

... und das Dunkle auf der Seele

Für Marga ist alles falsch: ihre Villa, in der Fremde wohnen, diese Frau, die angeblich ihre Tochter sein soll, das Kaffeepulver in der Bratpfanne. Die Alzheimer-Kranke ist aus ihrem Heim ausgerissen, zurück in eine heile Welt, die es so wohl nie gegeben hat. Noch weiß Sofia nicht, wie die plötzliche Nähe zu ihrer kreischenden, greinenden, abweisenden Mutter zu ertragen wäre. Alte Gespenster treiben die ehemals mondäne Dame um. Sie haben mit ihrer Jugend in Lettland zu tun, mit ihrem längst verstorbenen Ehemann Juris und einem Unbekannten, der auf fast jedem Foto von damals zu sehen ist. Bevor Margas Vergangenheit ganz im Vergessen zu versinken droht, fährt Sofia mit ihr nach Jürmala, im Sommer 1991, in ein Lettland im Umbruch.

Mit HIERANKL und WINTERREISE stellte sich Hans Steinbichler als Erneuerer des Heimatfilms vor. Er hat das einstmals verschämt belächelte Kind des deutschen Kinos einer cineastischen Roßkur unterzogen, hat ihm das gefühlige Torkeln und die Agfacolor-Besoffenheit der Nachkriegsjahre ausgetrieben, bis es eigentlich nicht mehr wiederzuerkennen war, und fand zu einer gestochenen Handschrift, die durch Daheimsein und Unbehaustheit wie durch Butter schneidet. Sein Markenzeichen wurde eine dialektal und dialektisch durchgefärbte Poesie, die nicht in irgendwelchen Sphären, sondern ganz dicht über der Erde schwebt.

Steinbichlers dritter Kinofilm, erstmals nicht nach einem eigenen Buch, knüpft an all dies an, wenn auch auf etwas andere Weise. Anders als früher fehlt hier der angewurzelte Sakra-Ton eines Josef Bierbichler. Anders als in seinen Kammerspielszenarien sind hier enorme Erzählflächen auszuschreiten – von Deutschland ins Baltikum, von den 30ern in die 90er Jahre, vom Privaten ins Politische. Und mit den vielen Fäden in der Hand, den Rückblenden, den Haupt- und Nebenfiguren, besetzt in gleich zwei Lebensaltern, hantiert es sich augenscheinlich weniger frei. Die geliebte glasklare, messerscharfe Steinblichler-Poesie kommt dort zum Tragen, wo es stiller und enger wird, wo die Gesichter näher rücken.

Manchmal scheint es sogar, als seien historischer und geographischer Raum nur ein Umweg, um zum Punkt zu kommen: zu einer Geschichte des Verlusts – nicht nur der eigenen, sondern auch der vererbbaren Erinnerung.

D 2010, 99 min
FSK 12
Verleih: NFP

Genre: Drama, Polit, Poesie

Darsteller: Hannelore Elsner, Karoline Herfurth, Juliane Köhler, David Kross, Niklas Kohrt, Matthias Brandt, Rüdiger Vogler, Fritzi Haberlandt

Regie: Hans Steinbichler

Kinostart: 02.06.11

[ Sylvia Görke ]