Originaltitel: LE JEUNE KARL MARX

F/D/Belgien 2016, 118 min
FSK 6
Verleih: Neue Visionen

Genre: Biographie, Drama, Historie

Darsteller: August Diehl, Stefan Konarske, Vicky Krieps, Olivier Gourmet

Regie: Raoul Peck

Kinostart: 02.03.17

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Der junge Karl Marx

Mohr vor den Tagen in London

Noch bevor Marx’ Konterfei onkelhafte Autorität mit viel Bart und wenig Gesicht wurde, noch bevor man ganze Städte nach ihm benannte, lange bevor die Popkultur ihm ein Che-Guevara-Barett aufsetzte und ihn als Statement gegen das Bürgerliche auf T-Shirts druckte, war er ein junger Mann. Mit großen Ambitionen, vielversprechender Ausbildung und ungewisser Zukunft. Diesem Lebensabschnitt, einer Zeit des Aufbruchs/Abbruchs/Durchbruchs, widmet sich Raoul Pecks Filmbiographie. Nicht umsonst fällt ihr Erscheinen ins hundertste Jahresjubiläum der Oktoberrevolution, von Koinzidenzen mit einer neu und stärker um sich greifenden Irrationalität im Hinblick auf politisches Handeln ganz zu schweigen. Ersteres war planbar, letzteres ist eingetretene Befürchtung.

Es ist wohl dieses Befürchten, jenes ganz pragmatische Unwohlsein in einer Zeit voller Visionäre, aber ohne bahnbrechende Denker, das diesem multieuropäischen Filmprojekt zu seiner bislang noch unbefragten Prominenz verhalf (Berlinale Special Gala). Ästhetisch wie erzählerisch gilt es, das nun einzulösen. Stellen wir uns also janz dumm und fragen: Wat is enne Dampfmaschin? Woher kam die Energie, die das Vorglühen der Märzrevolution 1848/49 zu einem Funken umwandelte, an dem sich schließlich, auf globalen und ideologischen Umwegen, die russische Revolution von 1917 entzündete? Der im 20. Jahrhundert ganze Staaten auf Flamme hielt? Der selbst bei deren Untergang nach 1989 an Porträts und Reliefs des ungefragten Ideologiestifters weiterfraß, zur Not auch nach politisch opportunen Umtopfungen an den Stadtrand wie im Fall des Leipziger Uni-Reliefs „Aufbruch“? Ist Marx also Peripherie?

Nicht bei Peck, so viel ist sicher. Auch wenn das Fiebrige dieser revolutionären Jahre weitgehend seinem Hauptdarsteller August Diehl, nicht aber seiner Inszenierung vorbehalten bleibt. 1843 läßt er seine Biographie des Revolutionärs als junger Mann beginnen, zoomt sich hinein in die Redaktionsstube der „Rheinischen Zeitung“ zu Köln, in der Marx als frischgebackener Freischaffender die Leitung übernahm, wegen seiner unverblümten Kritik inhaftiert wurde und bald darauf nach Paris floh. Brüssel war die nächste Destination – eine Charakterprobe gegen die eigene Armut und für eine weitgehend unbezahlte Überzeugung. Auf dem Weg trifft er Friedrich Engels, Industriellensproß aus deutsch-englischer Familie, dessen schriftstellerisches Interesse für die Arbeiterschaft ihn zunächst kaum für sich einnimmt. Aber dann funkt es: eine große Männerliebe im Geiste und im Anliegen. 1847/48 verfassen sie gemeinsam das Manifest der Kommunistischen Partei. Und dann ist der Film vorbei, fast.

Gäbe es nicht das Nachdenken über den politisch ambitionierten Historienfilm, seine Möglichkeiten, seine Grenzen. Natürlich bietet der auch hier, eindrücklich, wovon dieses Genre lebt. Die ausgesuchten Möbel, die gesteiften Kragen, das schwindsüchtige Flair, die zerwühlten Betten, die Spitzweg-Melancholie, das Tauchen ohne Spritzwasser zwischen Zeiten, Milieus und Atmosphären. Und natürlich ist er darin, in seiner ganzen herrlichen Bürgerlichkeit – wir reden vom filmischen Weltbürger Raoul Peck und vom renommierten Drehbuchautor des Cahier-du-Cinéma-Establishments Pascal Bonitzer – wenig angreifbar. Nein, Peck und Bonitzer rechnen mit der Beißhemmung ihrer ideologischen Kombattanten: Wer gedanklich mit ihnen ist, kann künstlerisch kaum gegen sie sein. Oder?

[ Sylvia Görke ]