Originaltitel: I AM NOT YOUR NEGRO

USA/F/Belgien/CH 2016, 93 min
FSK 12
Verleih: Salzgeber

Genre: Dokumentation, Polit, Schicksal

Stab:
Regie: Raoul Peck
Stimmen: Samuel L. Jackson

Kinostart: 30.03.17

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I Am Not Your Negro

Ein gnadenloser Heimatfilm

Beim Betrachten der amerikanischen Seele weiß man oft nicht, wo genau es hinzuschauen gilt. Der Blick wandert – von den weltläufigen US-Metropolen in die weitläufige Provinz, von Hollywood ins Hinterland, vom Freiheitsversprechen in überfüllte Gefängnisse, von Gottvertrauen zu Konsumgläubigkeit. Warum wollen die Vereinigten Staaten partout kein einheitliches Bild ergeben? Weil ihre schwarze Bevölkerung darin nicht vorkommt. Oder am Rand zu verschwinden droht. Oder ermordet am Baum hängt. Oder in jenen grotesken Posen verharrt, in denen die Weißen sie am liebsten sehen – blitzende Zähne in staunenden Gesichtern, virile Potenzwunder, Nachbarn, die schön hinterm Zaun bleiben.

So zumindest fiel die bittere Analyse von James Baldwin aus, jenem Harlemer Jungen, berühmten Literaten und scharfsinnigen wie scharfzüngigen Beobachter des Landes. Nach Jahren im französischen Exil kam er heim, engagierte sich in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und fuhr 1970 desillusioniert wieder davon. Evers, King und Malcolm X waren beerdigt und mit ihnen dieser Traum von einer Nation, die mit dem Rassismus endlich ihren blinden Fleck überwindet. Regisseur Raoul Peck ruft Baldwin nun 30 Jahre nach dessen Tod in den Zeitzeugenstand zurück – nicht leibhaftig, aber doch lebhaft. Aus Texten und Textfragmenten läßt er ihn sprechen: über seine Hautfarbe, seine Kindheit, seine USA, seine ermordeten Freunde und eine brodelnde Dekade, in der eine breite Front von Bürgern aller Couleur antrat, um das Blatt zu wenden. Dazu stellt Peck Ausschnitte aus alten Hollywoodfilmen, historische Foto- und Filmdokumente, Reklamebilder, Fernseh- und akademische Debatten und überhaupt alles, was die Archive über eine Kultur bewahrten, in der die weiße Mehrheit der schwarzen Minderheit ihren Platz und ihre Rollen zuwies.

Ihre Brisanz gewinnt diese von Wut getriebene und mit Klarsicht, fast kapitelhaft strukturierte Collage durch die Überblendung mit dem Jetzt: prügelnde Polizisten, marschierende White-Power-Anhänger und all’ die erschossenen schwarzen Kinder und Jugendlichen, die Amerika auf seinem Weg ins 21. Jahrhundert anhäufte. Raoul Pecks dynamischer Essay untermauert seinen Ruf als Filmemacher für überzeitliche politische Fragen. Und er beweist eindrucksvoll, daß inhaltliche und formale Zugänglichkeit eine Tugend sein kann. Denn sie stellt Schlagdistanz her.

[ Sylvia Görke ]