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Kleinstheim

Das Gefühl des Augenblicks

Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, schreibt der deutsche Philosoph Erich Fromm, ist die reinste und höchste Form der Liebe, weil sie keine Gegenleistung verlangt. Die Mutter liebt ihren Sohn oder ihre Tochter, weil er oder sie da ist, rückhaltlos und für das ganze Leben. Egal, ob diese Liebe erwidert wird oder nicht, ob sie „gut geraten“ oder „etwas aus der Reihe getanzt“ sind, die Kinder können sich dieser Unterstützung immer sicher sein.

Immer? Nicht immer. Und so beflügelnd das Erlebnis der Mutterliebe ist, so zerstörend kann die Erfahrung des Fehlens dieser Liebe sein. Denn das Fatale daran ist, daß sie nicht nur nicht verdient werden kann – sie kann auch nicht erworben werden. Kinder kriegen das schmerzhaft zu spüren, und sie wehren sich in unterschiedlichster Weise gegen diesen Schmerz. Manche laufen von Zuhause weg und leben auf der Straße, andere werden ins Heim geschickt. Oder sie liefern sich gleich selbst ein.

So wie Sarah. Nachdem sie im Alter von acht Jahren von ihrem Vater geschlagen wird, geht sie geradewegs zur Polizei und zeigt ihn an. Über das Jugendamt geht der Weg direkt ins Kinderheim Krottorf in Sachsen-Anhalt. Vier Jahre ist das jetzt her, und trotzdem, oder gerade deswegen, ist Sarahs größter Schmerz noch immer, daß der Papa wieder nicht angerufen hat.

Es sind diese Situationen, die einen staunend zurücklassen über die Offenheit der Kinder und die Feinfühligkeit der Filmemacher. Ein Jahr haben sich Chris Wright und Stefan Kolbe Zeit genommen. Sie drängen sich nicht auf, auch nicht als Interviewer, sondern warten ab, beobachten unkommentiert und sind zur Stelle, wenn eins der Kinder etwas von sich preisgeben will. Das Ergebnis ist schlicht überwältigend. Ein filmisches Tagebuch, assoziativ geschnitten, wunderbar fragmentarisch erzählt und mit einem eindringlichen Soundtrack vom Fühlen der Jugendlichen, von ihren Hoffnungen und Enttäuschungen. Kein Film über ein Kinderheim, kein Erklärfilm, sondern Ausdruck eines tief in den Filmemachern verwurzelten Drangs nach Verständnis. Ein Film über die Suche nach Glück, Freude und Zufriedenheit.

Vieles davon finden die Kinder in den Mauern des alten Schlosses. Einiges findet die Kamera in den Landschaften drumherum. Doch das meiste liegt in den Kindern selbst, die sich nicht aufgeben und die negative Erfahrung nicht hinnehmen wollen.

D 2010, 87 min
Verleih: Eigenverleih

Genre: Dokumentation

Stab:
Regie: Stefan Kolbe, Chris Wright
Drehbuch: Stefan Kolbe, Chris Wright
Musik: This Will Destroy You

Kinostart: 12.05.11

[ Marcel Ahrenholz ] Marcel mag Filme, die sich nicht blind an Regeln halten und mit Leidenschaft zum Medium hergestellt werden. Zu seinen großen Helden zählen deshalb vor allem Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij, Michelangelo Antonioni, Claude Sautet, Krzysztof Kieslowski, Alain Resnais. Aber auch Bela Tarr, Theo Angelopoulos, Darren Aronofsky, Francois Ozon, Jim Jarmusch, Christopher Nolan, Jonathan Glazer, Jane Campion, Gus van Sant und A.G. Innaritu. Und, er findet Chaplin genauso gut wie Keaton ...