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Love Is All You Need

Brillante Überraschungswundertüte aus dem Norden

Ja, so kennt und liebt man Susanne Bier: als Dirigentin knallharter, oft deprimierender Seelenstrips in zutiefst realistischen (mancher munkelt gar von „tristen“ oder „verwackelten“) Bildern. Keine andere Erwartungshaltung konnte Biers aktuellem Werk begegnen. Doch dann schon beim Vorspann der Schock – geradezu flirrend, lichtdurchflutet, verspielt! Und erst der Plot – was ganz Romantisches! Knickt die Frau fürs Humansezierende etwa plötzlich ein?

Wir wundern uns leicht unbehaglich, warten ab und lernen Ida kennen. Friseurin ist sie, Mitte 40, recht verhuscht. Und hat eine Chemotherapie hinter sich. Krebs, eine Brust mußte bereits amputiert werden. Im Arztgespräch orakelt Ida, daß der Verlust ihrem Mann sowieso nicht auffällt. Richtig vermutet, denn der hat bereits eine Geliebte aufgetan, irgendwo zwischen blondinenwitzdumm und wirklich bekloppt. Idas Welt zersplittert in kleinste Stückchen; nach Italien, zur Hochzeit der Tochter, will und wird sie trotzdem fahren. Um unterwegs den charmanten, beziehungsverweigernden Bräutigamsvater und Witwer Philip kennenzulernen ...

Nun, wir lehnen uns schnell entspannt zurück, denn Bier entwurzelt bei aller Schnuckeligkeit, ungeachtet jeder herzklopfenden Szene nie ihre filmische Vergangenheit. Trocken bleibt der Witz, unzensiert deutlich tönt mancher Spruch über den Soundtrack-Klassiker „That’s Amore“ hinweg, selbstbewußt schwimmt Ida trotz körperlicher Versehrtheit nackt im tiefstblauen Meer. Nicht verschwiegen werden soll, daß Bier dabei erneut auch auf ein glänzendes Darsteller-Quartett vertrauen darf: Film-Haudrauf Kim Bodnia fügt seinem Repertoire als trotteliger Gatte neue Facetten hinzu. Pierce Brosnan, hier wieder das Objekt weiblicher Sehnsüchte, war selten besser. Tryne Dyrholm in der Hauptrolle: selbst oder gerade ohne Haare eine schillernde, anrührende Fee. Die Show stiehlt allen indes Paprika Steen, welche Philips Prollbrumme von Schwägerin köstlich abstoßend gestaltet, ohne sie je zur Karikatur verkommen zu lassen, obwohl schon allein ein passend zur verbrannten Extrembräune gefärbtes Das-will-man-nachts-nicht-im-Wald-sehen-Frisurgebilde geradezu danach schreit. Steen hält die Waage: das Lachen zumindest im Original stets ein Tick zu ordinär, der Gestus eine Spur zu aufgesetzt, das Grinsen ein Hauch zu breit, das Trauern um die vorzeitig verstorbene Schwester etwas zu sehr gespielt. So gerät dieser Drachen namens Benedikte zwar zur gewollten Menschenmaske, bleibt aber trotzdem echt.

Wer sich jetzt bereits rundum in heimeliger Urlaubsstimmung wähnen will, wozu allein schon die grandiosen Landschaftsaufnahmen einladen, sollte jedoch nicht vergessen, daß bis zum nachgehenden Schluß unter der süß-bunten Schale ein bitterer Kern vom Sprießen träumt. Selbst wenn der Himmel im schönen Amalfi wortwörtlich voll verlockender Zitrusfrüchte hängt, ziehen immer mal wieder Verwundungen in sich bergende Wolken vorüber. Und natürlich ist Bier nebst ihres langjährigen Drehbuch-Kompagnions Anders Thomas Jensen mit den Regeln des Spiels vertraut und sich bewußt, daß man in Märchen sowie Liebeskomödien glücklich bis ans Ende seiner Tage lebt. Aber das unerschütterlich im wahren Leben verankerte Duo schlachtet es deshalb nicht auf dem Opferaltar. Es – das Wissen, wie nahe für Ida dieses Ende schon gerückt sein mag.

Originaltitel: DEN SKALDEDE FRISØR

DK/S/I/F/D 2012, 112 min
FSK 0
Verleih: Prokino

Genre: Tragikomödie, Liebe, Romantik

Darsteller: Pierce Brosnan, Trine Dyrholm, Paprika Steen, Kim Bodnia

Regie: Susanne Bier

Kinostart: 22.11.12

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...