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Paradies: Hoffnung

Laßt dicke Mädchen um Euch sein!

Jawohl, selbst dem Paradies ist ein Ende beschieden, wenigstens bei Ulrich Seidl. Mit HOFFNUNG erfährt seine Trilogie, die wie das gesamte Seidlsche Œuvre vor allem in Fleischfarben leuchtet, ihren würdigen Abschluß – in diesem Fall seltsam aufgeheitert durch das Teenager-Kolorit aus dem Textildiscounter. Wer eine 13jährige zur Filmheldin macht, darf eben auch vor Zartrosa, Aggropink und Himmelblau keine Angst haben.

Teresa aus Teil 1 verbringt ihre Ferien unter und auf afrikanischen Liebhabern. Ihre Schwester Anna Maria aus Teil 2 macht Urlaub unter dem heimischen Kruzifix. Und Melanie, Teresas pubertierende, übergewichtige Tochter, wird schließlich auf dem österreichischen Land abgeladen. Seidls dritter und letzter Sehnsuchtsort ist ein Diät-Camp, das alles bietet, was man an Kinderaufbewahrungslagern hassen kann: ein vor Straffheit und Tatendrang schier berstendes Aufsichtsfräulein, eine amüsierfeindliche Hausordnung und einen Turnlehrer, der seine Disziplinierungsmaßnahmen mit Verheißung würzt. „Wir werden eine Menge Spaß haben“, verspricht er seinen Ertüchtigungsbefohlenen. Aber die Mädels und Jungs wissen eh, daß es erst nach dem Zapfenstreich lustig wird.

Kissenschlachten, Flaschendrehen, altersweise übers Bumsen und Blasen schwadronieren, Schokoriegel vertilgen, an Bierflaschen nippen. Ach, es hätte ein so erholsam gewöhnlicher, unbeschwerter Sommerfilm werden können. Wäre da nicht der Seidl-Faktor, der ausgerechnet Melli finden läßt, was Tante und Mutter so verzweifelt suchen: die Liebe. Der Mann ist satte 40 Jahre älter, arbeitet als Diät-Arzt und kommt dem bis über beide Ohren verknallten Mädchen näher, als Vernunft und Gesetz erlauben. Und wäre da nicht die bekannte Mischung aus Laien und professionellen Schauspielern, die sich mit dieser widerborstigen, wachmachenden Schamhaftigkeit gegenüberstehen. Wenn man sich nun was wünschen dürfte, käm’ man in Verlegenheit. Denn wer einmal 13 war, wird Melanies Sehnsucht unbedingt für legitim halten. Noch bevor aber der Gedanke in all seinen Konsequenzen zu Ende gedacht werden kann, ist man aus dem Teenager-Himmel gefallen und in einem jener visuell gepflegten Seidlschen Irrgärten aufgeschlagen.

Wolfgang Thaler und Ed Lachmann haben die Bilder wieder schrecklich schön in der Mitte gefaltet – eine bittere Parodie auf die ästhetischen Gesetze der Kleinbürgerhölle mit ihren Platzdeckchen in furnierten Schubladen, ein Echo des Sortierzwanges, mit der sich Leitkulturen die Welt zurechtlegen. Wie reife Birnen, aber nach EU-Norm geordnet, hängen die dicken Kinder von den Kletterwänden oder purzeln, von ihren Unwuchten gelegentlich aus der Kurve getragen, über Turnmatten. Nicht auszudenken, welche Bildwitze den beiden Kameramännern für politische Parteitage, Aufmärsche oder Fahnenappelle hätten einfallen können. Und während man sich ein verstohlenes Schmunzeln gestattet, vielleicht sogar ein zweites, fällt auf, was Seidl in seiner unnachahmlichen Lakonie fast nebenbei fabriziert: eine umgewichtete Gegenwelt, in der das Abweichende zum Normalfall wird.

Österreich/D/F 2012, 91 min
FSK 12
Verleih: Neue Visionen

Genre: Drama, Erwachsenwerden

Darsteller: Melanie Lenz, Joseph Lorenz, Verena Lehbauer, Michael Thomas, Vivian Bartsch

Stab:
Regie: Ulrich Seidl
Kamera: Wolfgang Thaler, Ed Lachmann

Kinostart: 16.05.13

[ Sylvia Görke ]