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Precious

Motherfuckin’ Fat, Fatherfuckin’ Sad

Hätten Sie 1987 eine Schulbank in Harlem gedrückt, wäre Ihnen Clarice in lebhafter Erinnerung geblieben. Eine Festung von einem schwarzen Mädchen, umgeben von einem Gürtel aus Speck, der Wangenknochen, Taille und Hintern zu einem großen Trotzklumpen zusammenschnürt. Sie würden sich ins Gedächtnis rufen, daß die Festung kaum einzunehmen war, weder mit guten noch mit bösen Worten. Sie hätten nicht vergessen, wie unvermittelt durch das Phlegma hindurch eine Faust schießen konnte, wenn man sie „fett“ nannte. Clarice, die lernverzögerte und sozialbrandbeschleunigte Antiheldin von Lee Daniels’ Filmporträt nach einem Roman der Slam-Poetin Sapphire, ist einfach unvergeßlich.

Noch mit der Nase im Dreck träumt sie von gewagten Kleidern, spürt die Zunge eines Schönen aus dem Girlie-Universum im Ohr, tanzt zu Sweet Soul Music in den siebten Mädchenhimmel. Und sie will Precious, „kostbar“, gerufen werden – trotz aller Erniedrigungen, die sie einstecken muß. Zum zweiten Mal hat sie der Mann geschwängert, der auch ihr Vater ist. Zum x-ten Mal hat ihr Mommy ein haßerfülltes „You Are A Motherfuckin’ Nothin’, Bitch!“ entgegengebrüllt. Zum vielleicht letzten Mal öffnet sich die Tür zu einem Sonderbildungsweg, über den ein liebevoller Lese- und Rechtschreibengel namens Ms. Rain wacht.

Oh Lord, belohne den Mut, mit dem hier eine Besetzungsliste gegen den Strich gebürstet wurde. Kauf diesem von der Welt und Ronald McDonald verratenen Teenager bloß keinen Mercedes Benz und keine Fitneßgeräte. Erspare ihm von mir aus Obst und Gemüse. Sorge nur dafür, daß auf die verstockte, schillernde Kostbarkeit von einer Hauptfigur irgendwann und irgendwo noch ein anderes Filmleben wartet. Denn als man sich gerade darüber freuen will, mit wie viel Humor, wilder Phantasie und ungewaschenem Slang Lee Daniels gegen die All-American-Bildungsmärchen anstinkt, passiert ein Unglück.

Genauer: Es prasseln solche Unmengen von Unglück auf die breiten Schultern unserer neuen Freundin herab, daß es wohl selbst Jesus aus den Latschen gehauen hätte. Und während die zarten Bande, die dieser Film mit der Realität knüpft, sich allmählich in Luft auflösen, wächst ein Verdacht: Auch mit noch so viel Witz und straßentauglichem Störpotential ist gegen das Pathos von „Oh Captain, mein Captain“ kaum ein Kraut gewachsen.

Originaltitel: PRECIOUS: BASED ON THE NOVEL PUSH BY SAPPHIRE

USA 2009, 109 min
FSK 12
Verleih: Prokino

Genre: Drama, Schicksal, Schräg

Darsteller: Gabourey Sibide, Mo’Nique, Paula Patton, Mariah Carey, Lenny Kravitz

Regie: Lee Daniels

Kinostart: 25.03.10

[ Sylvia Görke ]