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Schildkröten können fliegen

Auf Minenfeldern wächst auch Poesie

Das Verrückte an Friedenspreisen ist, daß sie nicht "nur" eine Haltung gegen den Krieg ehren, sondern auch meist und gerade die aufwühlendsten Arbeiten über die völlige Abwesenheit von Frieden. Bahman Ghobadis dritter Langspielfilm, ausgezeichnet mit dem Friedenspreis der diesjährigen Berlinale, ist so eine Arbeit. Weit mußte der Regisseur nicht gehen, um eine Geschichte zu finden, in der kein Frieden ist - in die eigene, von Krieg geprägte Kindheit als iranischer Kurde, oder eben in ein Flüchtlingslager von Waisen auf Kurdistans irakischer Seite, kurz vor der zweiten amerikanischen Invasion.

Dieses Kinderland, manchmal in heiterer, aber immer bedrohlicher Unruhe, ist der kleine Rest, den Kriege und Saddams Milizen übrigließen. Der König ein Dreizehnjähriger, der seinen Spitznamen "Satellit" stolz wie eine Krone trägt und das klapprige Fahrrad wie eine Limousine fährt. Mit gebrauchten Antennen, endlosen Kabeln und dürftigem Englisch herrscht er darüber, ob und wann welcher Dorfscheich auf CNN erfährt, wie nah die amerikanischen Bomben sind. Die Landminen aber, eine Leistungsschau des internationalen Rüstungswesens, sind längst da. Mit dem Verkauf der Todesfallen verdienen die Kinder ihren Lebensunterhalt. Wer dabei Arme oder Beine verliert, hat wenigstens keine Angst mehr, sagt Satellit. Und dann ist er plötzlich verliebt - in Agrin, ein stilles Mädchen, das mit dem verkrüppelten Bruder und ihrem blinden Sohn, dem Kind einer Vergewaltigung, aus dem Nichts auftaucht.

Agrins Füße am Abgrund über dem Wasser. Dieses erste, so schrecklich schöne Filmbild kehrt immer wieder. Eine dunkle Vorahnung, daß sie im Nichts auch wieder verschwinden will. Wo aber sind die Flügel, wenn man sie wirklich braucht? Wie soll auch nur eine verfluchte Schildkröte sich erheben über diese traurige Wirklichkeit, die noch nicht einmal frei erfunden ist? Diesem Film erwachsen die Flügel aus der Poesie: durchdachte, symbolische Bilder, die sich bei allem Realismus doch nie einfach in den Realitäten einrichten mögen. In ihnen verbergen sich grimmige Witze - Landminenhumor für eine Friedensmacht, die immerzu mit der Faust zerschlagen will, was sie schon mit dem Hintern eingerissen hat.

Originaltitel: LAKPOSHTHA HÂM PARVAZ MIKONAND

Irak/Iran 2004, 98 min
Verleih: mîtosfilm

Genre: Drama

Darsteller: Avaz Latif, Soran Ebrahim, Saddam Hossein Feysal, Hiresh Feysal Rahman, Abdol Rahman Karim

Stab:
Regie: Bahman Ghobadi
Drehbuch: Bahman Ghobadi

Kinostart: 23.06.05

[ Sylvia Görke ]