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Seelenvögel

Ergreifende Dokumentation über einen Abschied in Würde

Wieviel Schmerz erträgt ein Mensch? Welches Maß an Lebensfreude kann man noch empfinden, wenn der Tod schon lauernder Gast ist? Woraus nährt sich Zuversicht nach schweren Niederlagen? Wie läßt sich Hoffnung abrufen, wenn man sich von einem aus dem Kreis seiner Liebsten in absehbarer Zeit trennen muß? Diese Fragen stellt Thomas Riedelsheimer in seinem tief zu Herzen gehenden Film. Aber weil Riedelsheimer, einer der beeindruckendsten deutschen Dokumentarfilmer ohnehin, wirklich zuhört, weil er schweigen kann, wenn sein Gegenüber spricht, weil er die Geige im Kasten läßt, wenn sein Gesprächspartner weint, weil er seine Geschichte ganz wunderbar und gerade wegen ihres schweren Themas mit Poesie und Träumereien mischt – deswegen ist SEELENVÖGEL in keinem Moment larmoyant oder gar manipulativ geworden.

Wir sehen drei sehr junge Menschen, die gegen ihr Todesurteil Leukämie ankämpfen. Und somit ist SEELENVÖGEL zwar ein Film über das Sterben, aber durch die einfühlende Erzählart, durch den großen Raum, den Riedelsheimer der 15jährigen Pauline, dem 10jährigen Richard und dem kleinen Lenny einräumt, auch einer vom Leben geworden. Der Zuschauer taucht tief in die Familien ein, wird Teil ihres Alltags, darf über kleine Erfolge jubeln und mit den Protagonisten über Rückschläge traurig sein. Die Kraft des Films zieht sich allein aus den Figuren, die allesamt von bemerkenswerter Stärke sind.

Die Eltern des 6jährigen Lenny, der neben Leukämie auch noch am Down-Syndrom leidet, beeindrucken durch einen fast beneidenswerten Umgang mit dem Tod. Weil sie sich eben nicht auf das unaufhaltbare Sterben konzentrieren, sondern auf die Zeit, die bleibt. Sie sagen das so nüchtern: Qualität vor Quantität. Noch einmal die Strapazen einer weiteren Chemo oder lieber weniger, dafür friedvollere, schmerzfreiere Zeit für den Jungen? Der poetische Anstrich des Films ist kein manierierter Kunstgriff, sondern speist sich aus den Tagebuchaufzeichnungen Paulines. Sie träumt davon, eine Kuh zu sein, natürlich eine, die gut behandelt wird. Kühe strahlen Ruhe aus. Ruhe ist genau das, wonach sich Pauline sehnt. Sie ist ein kluges Mädchen, das sich in seinen Aufzeichnungen viel mit Ängsten beschäftigt. Ängste, die oft irrational scheinen. So fürchtet sie sich davor, auf einem Meer weit draußen zu sein, vor dem Tod aber hat sie selbst kaum Angst: Was soll der Tod schon sein, wenn man doch an ein neues Leben glaubt? Als Kuh zum Beispiel. Und auch diese „Abgeklärtheit“ ist zerrissen. Pauline ängstigt sich im gleichen Moment, ob sie es noch bis Weihnachten schafft ...

Ähnlich analytisch geht Richard vor, ein hübscher Junge mit großen, traurigen Augen. Es trifft mitten ins Herz, wenn er sich zum einen ganz nüchtern mit den Begleiterscheinungen seiner Krankheit auseinandersetzt, sich dann aber sorgt, ob er nach dem Tod in den Herzen der Menschen weiterleben wird. Das sagt er unter Tränen, da muß man einfach mit ihm weinen, und dann ist es nur gut, daß Riedelsheimer sich in diesem intimen Moment nicht abwendet. Wir werden Teil der Geschichte, wir werden den drei Helden – und das sind sie wirklich – zur Seite gestellt, also weinen wir auch mit ihnen. Richards Frage übrigens beantwortet der Junge gleich selbst: „Wir werden es noch früh genug erfahren.“

Daß ein solcher Film weh tut, weil er nahe geht, weil er einen nicht beschwingt aus dem Kino in die Winterluft treten läßt, weil er einen zwingt, „Dinge“ in Bauch und Kopf zu ordnen, ist klar. Aber dennoch ist SEELENVÖGEL kein Trauerspiel, vielmehr ein Zeugnis von enormer Kraft und wahrer Liebe. Die spiegelt sich oft in kleinen, wie beiläufigen Beobachtungen und Äußerungen wider. Etwa wenn Lennys Vater zu dem Knirps sagt: „Du bist schon ein sonderbarer Kerl!“

D 2009, 90 min
FSK 6
Verleih: Piffl

Genre: Dokumentation, Schicksal

Regie: Thomas Riedelsheimer

Kinostart: 26.11.09

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.