Originaltitel: NAPSZÁLLTA

Ungarn/F 2018, 142 min
FSK 12
Verleih: MFA

Genre: Drama, Historie

Darsteller: Juli Jakab, Susanne Wuest, Vlad Ivanov, Evelin Dobos

Regie: László Nemes

Kinostart: 13.06.19

1 Bewertung

Sunset

Anarchie, Obsession und Grandezza

Budapest stand 1913 im Begriff, Wien in Sachen Chique und Ansehen Konkurrenz zu machen. László Nemes (OSCAR-Gewinner für SON OF SAUL) läßt die junge Írisz in ihre Geburtststadt zurückkehren und beim führenden Hutsalon der Stadt vorstellig werden, der ihren Familiennamen trägt: Leiter. Im leicht fiebrigen Blick der schmalen Frau, ihren sporadischen Gesten scheinen verzweifelte Fragen zu liegen, auf die sie Antwort zu finden hofft. Aber sie stößt vor allem auf schwelenden Argwohn.

Einzelne Versatzstücke ihrer Vergangenheit lassen sich alsbald zusammensetzen. Írisz hat ihre Eltern in einem Feuer verloren, das im Hutsalon ausgebrochen war, als sie noch ein kleines Mädchen war. Daraufhin wuchs sie in einem Waisenhaus auf. Ein gewisser Herr Brill übernahm das Hutgeschäft. Außerdem soll es einen großen Bruder namens Kámál geben. Immer wieder raunen Fremde Írisz Informationen zu, sie vernimmt das gehässige Gerede hinter ihrem Rücken, wird in Zimmer geführt, dann wieder herausgezerrt, in Kutschen verfrachtet und in Boote gesetzt. Nemes hält seine Hauptfigur unaufhörlich in Bewegung. Dabei erfahren wir als Zuschauer nie mehr als die unmittelbare Subjektive von Írisz, heften uns gemeinsam mit der Kamera an ihren Rücken und folgen.

Nemes erschafft dadurch die klaustrophobische Atmosphäre einer nebulösen Verschwörung. Und von Gefahr. Spekulationen lassen sich ansetzen, ob die Eltern vielleicht einem antisemitischen Anschlag zum Opfer gefallen sind. Höchste Kreise der österreich-ungarischen Monarchie könnten verwickelt sein. Kámál soll außerdem einen Grafen grausam ermordet haben. Dann sind da noch all die jungen schönen Frauen, die in Brills Hutsalon arbeiten. Jedes Jahr wird eine von ihnen für den Wiener Hof auserkoren, und Írisz findet heraus, daß die letzte junge Frau von Verbrennungen entstellt in ihr Elternhaus zurückkehrte. Und wer ist eigentlich der mysteriöse Kámál – anarchistischer Retter oder schlichter Verbrecher?

Knapp zweieinhalb Stunden lang treibt Nemes Írisz durch betörend schöne Szenerien, die, opulent und detailverliebt ausgestattet, sogar in Blut getränkt noch malerisch wirken. Sie sucht mit Aufwendung aller Kräfte ihre Wurzeln. Doch was sucht der Regisseur durch sie? Nemes verweigert sich dem Format Historienfilm, dem er sich glamourös bedient, mit Verve und läßt sein Publikum sehenden Auges verunsichert und fragend zurück.

[ Susanne Kim ] Susanne mag Filme, in denen nicht viel passiert, man aber trotzdem durch Beobachten alles erfahren kann. Zum Beispiel GREY GARDENS von den Maysles-Brüdern: Mutter Edith und Tochter Edie leben in einem zugewucherten Haus auf Long Island, dazu unzählige Katzen und ein jugendlicher Hausfreund. Edies exzentrische Performances werden Susanne als Bild immer im Kopf bleiben ...