Bild: DESSAU DANCERS

Von dicken Flughafenmädchen, brechtanzenden Ossi-Jungs und der Lust am Edeltrash

Ein Rückblick auf das 32. Filmfest München

[ 31.07.2014 ] Die schmissigen Reden des ehemaligen Münchner OBM Christian Ude fehlten dieses Mal dem Eröffnungszeremoniell des zweifelsfrei schönsten Filmfests Deutschlands. Diese Lücke vermochte Horst Seehofer nur mäßig zu füllen, zumal er gestand, nicht mehr im Kino gewesen zu sein, seit er mit stolzgespannter Brust den Freistaat führt. Ein Bekenntnis, dem cinephile Wähler bei der nächsten Landtagswahl Abhilfe verschaffen sollten.

Nun gut, man fährt ja ohnehin kaum wegen eloquenter Worte alljährlich an die Isar, die Filme sind der Grund. Und da ist zu statuieren: Der Weg hat sich einmal mehr gelohnt. Besonders die Freunde des frankophonen Kinos schauen immer mit Erwartung dem Filmreigen entgegen, und tatsächlich, gerade diese Vorliebe wurde bestens bedient. Philippe Claudels neuester Film BEVOR DER WINTER KOMMT erzählt von einer erodierten Ehe. Er, erfolgreicher Chefarzt, sie, gelangweilte Hausfrau. Schulterklopfen und Einsamkeit, Patientenanhimmelei und Herbstlaubfegen. Eines Tages bekommt Paul Blumen geschickt – in die Klinik, nach Hause, immerfort. Paul gibt den Ratlosen, Lucie fühlt sich noch mehr übersehen, bis sich eine kaum zu stoppende Katastrophe Bahn bricht. Claudel spielt fabelhaft auf der Hitchcock-Klaviatur, winkt zu Chabrol hinüber und bietet hochspannendes und erstklassiges Schauspielerkino.

Letzteres gilt auch für LA RITOURNELLE, und hier geht es ebenfalls um eine Ehe auf dem Prüfstand, wenn auch die Geschichte von Brigitte und Xavier komischer erzählt ist. Die beiden sind Bauern, sie aber ist ihn ein wenig leid, diesen immergleichen Alltag aus Stallarbeit, Rucksackbullen und launischem Wetter in der Normandie. Eines Tages lernt Brigitte einen jungen Mann kennen, sie folgt ihm nach Paris. Und genau hier entfernt sich Marc Fitoussi von allem Erwartbaren, spinnt den Plot zu einer witzigen, berührenden und überraschenden Geschichte über die Schwierigkeit des Fremdgehens, verliebte Blicke nach vielen Ehejahren und den Duft des eigenen Bettes. Isabelle Huppert spielt wieder fabelhaft, Xavier wird von einem nuanciert spielenden Jean-Pierre Daroussin gegeben, und zum Schluß sehen wir jede Menge Schlamm auf der Haut und Kühe in der Wüste. Formidable!

Interessantes war auch in der Reihe „Deutsches Kino“ zu entdecken, dort fielen vor allem drei Beiträge auf: BE MY BABY, SCHÖNEFELD BOULEVARD und DESSAU DANCERS. Ersterer erzählt von Nicole, 17, die sich zunehmend aus der Klammer der alleinerziehenden Mutter lösen will, sich in Nick verguckt, den nervösen Nachbarsjungen, und sich schließlich sehnlich wünscht, ein Kind zu bekommen. Spätestens jetzt haben alle die Faxen dicke, so etwas geht nicht – wenn man am Down-Syndrom leidet. Komisch, emotional, mit wunderbarem Dialogwitz, feiner Ironie und einer alle an die Wand spielenden Hauptdarstellerin geriet BE MY BABY von Christina Schiewe zu Entdeckung schlechthin, der unbedingt ein Verleih zu wünschen ist, um die ungewöhnliche Geschichte übers Erwachsenwerden in die Kinos zu bringen.

SCHÖNEFELD BOULEVARD hat es da schon besser, im Frühherbst startet der Film. Sylke Enders erzählt nach KROKO wieder von einem speziellen Mädchen, dieses Mal ist es Cindy: Teenie, dick, einsam und auf Männersuche. Sie trifft den finnischen Ingenieur Leif, geht mit einem Asiaten essen, aber so richtig geht es nicht weiter, genau wie mit der Großbaustelle ganz in ihrer Nähe. Enders erzählt wieder einmal geerdet, mit einer tollen Hauptdarstellerin, niemals moralinsauer, auch wenn ihre Geschichte eine über das Versagen ist – dem der Eltern, Lehrer, der Bauherrin Berlin und manchmal des ganzen Systems. Und daß ihr komische Momente gelingen, obwohl selbst Cindys bester Freund Danni nicht gerade feinfühlig agiert („Alles paletti, Fatty?“), macht den Film zu einem der besseren des deutschen Gegenwartskinos.

Bei DESSAU DANCERS, einer Komödie um Breakdance in der DDR, ist die Marschrichtung klar: „Seid bereit! Nicht bereit!“ – Frank provoziert den Widerstand, als er sich mit seinen Kumpels, nachdem sie BEAT STREET im Kino sahen, leidenschaftlich dem „Brechtanz“ (O-Ton der SED-Knallchargen) verschreibt. Es dauert naturgemäß nicht lange, bis der Stasi die akrobatischen Übungen auf den Straßen in Dessau auffallen, die Clique muß sich erklären und kann einem Deal vorerst nicht widerstehen. In Jan Martin Scharfs Film geht es um Freundschaft, Liebe und Verrat, aber auch um Leidenschaft, Selbstbestimmung und Anpassung. Scharf erzählt mit Witz, Tempo, im amüsanten Retro-Look, und auch wenn Ruth Tomas Drehbuch bisweilen auffallend klappert, ist dem Film durchweg große Sympathie zu attestieren. Allein wie charmant die „Battles“ inszeniert sind ...

Traditionell wird sich in München dem aus den deutschen Kinos fast verschwundenen amerikanischen Independent Cinema verschrieben. Da gefiel besonders JOE von David Gordon Green. Der 15jährige Gary sucht Arbeit, die bietet ihm Joe, der ein Abholzungsunternehmen führt. Beide sind eher wortkarg, einzelgängerisch, sie freunden sich an. Joe hilft der neue Bund, seine Vergangenheit zu verdrängen, Gary, ein Kind, das früh erwachsen werden mußte, träumt von einem besseren Leben – ohne die Attacken seines versoffenen Vaters. Green erzählt still und ohne Weichzeichner von einer ungewöhnlichen Freundschaft, vom Überlebenskampf eines Jungen aus extremstem White-Trash-Milieu, in dem Typen schon für eine Pulle Schnaps anderen den Schädel einschlagen. Die Überraschung des auch harten Films: Nicolas Cage! Den hatte man echt nicht mehr als ernstzunehmenden Mimen auf dem Plan, er liefert hier aber eine beeindruckende Leistung, die sein so sattgesehenes Over-The-Top-Gehampel der letzten Jahre wettmacht. Und ohnehin ein Gesicht der Kinozukunft: Tye Sheridan, der nach MUD einmal mehr durch Verletzlichkeit, Wut und Hoffnung glänzt.

Großartige Schauspieler waren mit Samantha Morton und Michael Shannon auch in THE HARVEST zu bestaunen. John McNaughtons Film erzählt ein Familiendrama. Andy ist zwölf Jahre, sitzt im Rollstuhl und wird von seinen Eltern zu Hause gepflegt. Jeden Kontakt mit der Außenwelt ist vor allem die energische Mutter bemüht zu verhindern. Doch so leicht läßt sich das Nachbarsmädchen Maryann nicht abwimmeln, bis sie eines Tages im Hause der Familie eine grauenvolle Entdeckung macht. Keine Wendung ist McNaughton zu heftig, kein Extrem genug, und so – das muß man auch anerkennend sagen – rutscht ihm dieses krasse Teil völlig aus den Händen und entwickelt sich zu einem stets hochspannenden, aber eben auch unfreiwillig komischen Stück edelsten Hochglanz-Trashs. Vor allem Samantha Morton erkannte das Potential dieser Ruderlosigkeit und spielt Andys Mutter derart, daß einem das Blut in den Adern gefriert, und Kathy Bates als Annie Wilkes in MISERY rückblickend wie eine verschüchterte Bibliothekarin scheint.

Daß Filme mit Valeria Bruni-Tedeschi gute Filme sind, ist ein alter Hut. Ihr Spiel in HUMAN CAPITAL dürfte aber sogar eine ihrer besten Leistungen überhaupt sein. Sie spielt Carla Bernaschi, Ehefrau eines schwerreichen Spekulanten, die sich ihre Zeit mit Massagen und Shopping vertreibt. Ihr Sohn ist mit Serena liiert, deren Vater sich in den Fonds der Bernaschis einkauft und auf eine Katastrophe zusteuert. Serena will sich von Massimiliano trennen, während Carla sich mit einem Autoren auf eine unglückselige Liaison einläßt. Und am Anfang steht der Tod eines Radfahrers ... Paolo Virzì erzählt sein Drama als Tryptichon von geradezu Shakespearescher Couleur: Zwei arg verschiedene Familien, Verrat und Betrug, Gier und Feigheit, Abhängigkeit und Größenwahn bilden das Gerüst eines durch und durch spannenden, klugen und dabei unterhaltsamen Films.

Und schließlich noch drei Filmempfehlungen, die gottlob in den deutschen Kinos starten werden: STILL THE WATER, THE ZERO THEOREM und THE HOMESMAN. In Ersterem stellt Naomi Kawese zwei 16jährige Teenager ins Zentrum einer philosophischen und poetischen Geschichte. Keito entdeckt eine Leiche im Wasser, der verstörte Junge erkennt darin den Liebhaber seiner Mutter, der er ohnehin in einem Mix aus Wut und Verzweiflung vieles vorwirft. Kyoko verliebt sich in den introvertierten Jungen, auch sie steht vor einer großen Prüfung: Kyokos Mama liegt im Sterben. In beeindruckender Naturkulisse des Yoan Beaches auf Amami wird von Verlust, Erwachsenwerden, erstem Sex, Traditionen und den Kontrasten der Moderne wie Hektik und Lärm erzählt. Ein Sturm kündigt sich überdies an – wirklich und metaphorisch.

Mit THE ZERO THEOREM meldet sich Terry Gilliam zurück, und das Staunenswerte an diesem gagesken Philosophie-Exkurs mit sprechenden Pizzakartons, hormonell gesteuerten Paradigmenwechseln und einer niemals untergehenden Abendsonne im Palmenparadies ist die Unermüdlichkeit des Regisseurs. Aberwitzig, klug, anstrengend, unterhaltsam und vor allem von einem überbordenden Ideenreichtum, daß man sich schon fragt, welche Drogen der rüstige 74jährige eigentlich nimmt. Und neben einem satirischen Seitenhieb auf THE MATRIX fügt sich Christoph Waltz schon frisurentechnisch in Gilliams 12 MONKEYS-Universum ein.

Und schließlich THE HOMESMAN, den verantwortete Tommy Lee Jones als Regisseur und zweiter Hauptdarsteller gleichermaßen. Man darf durchaus sagen, daß dieses bildgewaltige, kraftvolle, konsequente und mit pointiertem Witz aufwartende Stück ein astreiner Frauenwestern ist. Der Film erzählt die Geschichte von Nary Bee Cuddy, eine spröde, allein lebende und ihre Farm bewirtschaftende Frau, die eine schwierige Aufgabe übernimmt: Sie soll drei verrückt gewordene Frauen von Nebraska nach Iowa bringen. Die Reise führt nicht nur durch Indianergebiet, Lumpenpack säumt den Weg, so daß es am Ende das geringere Übel ist, daß sich der Hallodri Briggs ihr an die Seite gesellt. THE HOMESMAN ist Jones’ zweite Regiearbeit, ihm gelang nicht weniger als ein echter Kinotraum in sattem Cinemascope, ein meisterlicher Beitrag eines immer frischen Genres.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.