4 Bewertungen

Chinese zum Mitnehmen

Globalisierung in aller Intimität

Irgendwie hat sich über die (Kino-)Jahre ein Pawlowscher Reflex manifestiert: Beginnt ein Vorspann mit dem Hinweis, das Folgende beruhe auf wahren Begebenheiten, erwachen ungute Gefühle. Doch manchmal sind sie unbegründet – so wie hier. Denn dieser Film kann was. Einiges, um konkret zu sein.

Besagtes reales Ereignis betrifft einen jungen Chinesen, welcher seine Angebetete um deren Hand bitten will. Leider kommt er nicht dazu, denn etwas fällt vom Himmel und erschlägt die Frau. Was genau für ihr Ableben sorgt, ist derart unglaublich und bei aller Tragik auch grotesk komisch, daß man es selbst sehen sollte. Voller Trauer wandert unser chinesischer Held Jun nach Argentinien aus, um dort seinen Onkel zu finden und sich eine neue Existenz aufzubauen, wird aber sofort bei Ankunft beraubt. Derweil zählt Roberto, Inhaber eines Eisenwarenladens, die gelieferten Schrauben und stellt mal wieder eine Differenz fest. Gar nicht lustig für den in seiner eigenen Welt gefangenen Mann, welcher selbst überdeutliche weibliche Avancen abschmettert. Zwangsläufig müssen sich diese beiden konträren Charaktere treffen. Und logischerweise schlummert unter Robertos misanthropischer Schale ein weicher Kern, der Jun zu Hilfe eilt.

Mehr passiert nicht – zum Glück. Der Zusammenprall zweier Menschen und Kulturen dient ausschließlich der Offenlegung, wieso Roberto Punkt 23.00 Uhr das Licht löscht, dem Foto der bei seiner Geburt verstorbenen Mutter zum Geburtstag Kitsch schenkt oder schräge Zeitungsmeldungen sammelt. Ein Sonderling, überfordert durch Juns sprachlich unverständliche Anwesenheit, wobei Letzteres gleichermaßen für das Publikum gilt, denn intelligenterweise werden die Entgegnungen des Chinesen nie untertitelt. Mit reduzierten Dialogen, trockenem Humor und aller Zeit der Welt, schließlich sogar einem in wenigen aufrüttelnden Minuten komprimierten Höhepunkt, skizziert das bittersüße Wunderwerk zwei widersprüchliche Figuren. Knapp, karg, rührend. Ausgewaschen, sofern es die Bildsprache anbetrifft, und absurd, wenn es um die Sinnhaftigkeit oder -losigkeit des Schicksals geht.

Passend zum Titel gibt es kulinarische Unterfütterung in Form von Leckereien wie Viehhoden und Knochenmark, die wahre Sättigungsbeilage für Kopf und Gefühlszentrum liefern aber die starken Darsteller. Und ein Ende, bei dem man weinen möchte. Vor Glück, wohlgemerkt.

Originaltitel: UN CUENTO CHINO

Argentinien/Spanien 2011, 93 min
FSK 12
Verleih: Ascot

Genre: Tragikomödie, Poesie

Darsteller: Ricardo Darín, Ignacio Huangi

Stab:
Regie: Sebastián Borensztein
Drehbuch: Sebastián Borensztein

Kinostart: 05.01.12

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...