Originaltitel: À PROPOS DE JOAN

F 2021, 101 min
FSK 12
Verleih: Camino

Genre: Drama

Darsteller: Isabelle Huppert, Lars Eidinger, Freya Mavor, Swann Arlaud, Dimitri Doré

Regie: Laurent Larivière

Kinostart: 01.09.22

2 Bewertungen

Die Zeit, die wir teilen

Wenn Erinnerungen springen

Irgendwer hat errechnet, daß man im Kino bei einem durchschnittlichen 90-Minüter etwa 21 000 Mal die Augen bewegt. Die Gründe hierfür sind unerforscht und werden es bleiben, denn nun wirklich jeder Film hätte andere zu bieten. In DIE ZEIT, DIE WIR TEILEN braucht es manchmal nur ein Zwinkern, einen winzigen Augenauf- und -zuschlag, und schon wird man Jahre, zum Teil Jahrzehnte nach vorn und hinten geschossen. Die Choreographie von Regisseur Laurent Larivière ist ein Faszinosum. Und als würde die Struktur der Sprünge nicht genügen, geht Isabelle Huppert gleich zu Beginn einen Pakt mit dem Publikum ein, indem sie direkt in die Kamera spricht. Am Ende wird klar, weshalb das so ist.

Funktioniert nicht genau so die Erinnerung, erst recht, sind die 60 passiert? Joan Verra ist nach diesen Jahren dort angelangt. Die Verlegerin wird durch eine kurze, aber intensive Begegnung vom Erinnern eingeholt. Sie fühlt sich auf der Straße von einem älteren Herrn verfolgt, und er hat es wirklich auf sie abgesehen. Kein Unbekannter ist’s.

Doug war Dieb in Dublin und in den späten 60ern die erste heftige Liebe für das französische Au-pair-Mädchen Joan. Sie krallen sich aneinander und klauen zusammen, sie erkunden ihre Haut, ihr Wesen, und wenn es sein muß, durch das Loch einer Zellenwand. Denn irgendwann war es eine gestohlene Brieftasche zu viel. Joans Eltern bringen die Tochter wieder heim, doch sie ist nicht mehr allein. Von Nathan, dem gemeinsamen Sohn, wird Doug nichts erfahren, auch nicht bei jenem späten Treffen, das mit einer der innigsten Umarmungen der jüngsten Kinohistorie endet.

Hier noch glaubt man, DIE ZEIT, DIE WIR TEILEN dekodiert zu haben, doch Laurent Larivière, der bislang nur sehr selten und bei uns eher gar nicht mit Regiearbeiten in Erscheinung trat, unterwandert alle Erwartungen und Vermutungen, entwickelt fortan eine komplexe Geschichte mit heiklen Seitensträngen, fiktionalem Mut und narrativen Labyrinthen. Im überraschungsfreiesten davon tritt Lars Eidinger auf, gibt einen exaltierten Schriftsteller, der sich hoffnungsschwer in Joan verliebt. Allein für das Schlußbild mit Rasentraktor hat sich dieser Film gelohnt.

Da ist freilich viel mehr, sind viele kleine, fast beiläufige Szenen eines Familiendramas über drei Generationen und eines Mutter-Sohn-Geflechts, das, wie sich herausstellen wird, manchmal zu schön ist, um wahr zu sein.

[ Andreas Körner ]