Noch keine Bewertung

Eiszeit

Dokumentarfilm mit Verspätung

Eindeutig zu lange auf Eis gelegen hat der Film von Alexander Kleider und Daniela Michel. EISZEIT entstand 2004, im Jahr nach dem Beschluß des Reformpaketes "Agenda 2010", welcher den größten Einschnitt in die Praxis des Sozialstaates nach Gründung der Bundesrepublik einleitete.

Kleider und Michels Perspektive ist die von sechs Betroffenen, die aus verschiedenen Gründen aus der so genannten Mitte an den Rand der Gesellschaft gerückt sind. Schauplatz der Porträts ist Berlin-Marzahn, und mit der Auswahl der Protagonisten packen die Filmemacher ihr Thema breit an. Den Einstieg macht eine 1920 geborene Rentnerin, gefolgt von einer 44jährigen Alleinerziehenden mit fast erwachsenem Sohn. Matthias, ebenfalls 44, ist ob seiner schweren Krankheit auf ganztägige Betreuung angewiesen. Anneliese, Jahrgang 1931, und Peter, Jahrgang 1942, sind beide sehbehindert. "Arbeitslosigkeit", "Rente", "Sozialhilfe" und "Pflegenotstand" sind in EISZEIT nur Schlagwörter, die Porträtierten lassen das Dilemma lebendig werden. Während die Fakten den Zuschauer aber einmal mehr das Gruseln lehren, ist eines doch festzustellen: Mit ihrem Schicksal sind diese Menschen ohne Jammern sehr bei sich und den zu mobilisierenden Kräften. Spürbar wird daneben schlicht ihre Angst, nicht zu wissen, wie es weitergehen kann.

In EISZEIT sind es allein die Filmemacher, die mit ihrem Thema nicht ohne Dramatisierung fertig werden. Wo sie sich verbal jeden Kommentars enthalten, müssen Kamera und Schnitt übernehmen. So schrumpft in einer Szene das Bild auf den Ausschnitt, den die nahezu erblindete Anneliese noch erkennen kann. Dies mag hilfreich sein, will man dem Zuschauer Einblick in eine ihm fremde Welt geben. Die Perspektive der Kamera, so wenn sie immer wieder die Blindenstöcke des Paares fokussiert, ist zum Teil aber schlichtweg ärgerlich. Solches evoziert nur Bilder individueller Hilflosigkeit, und diese Sicht auf die Dinge, sollte man meinen, wollten die Porträts doch eigentlich vermeiden. Oder ging es nicht darum, daß das System, nicht die Menschen, an seinen Grenzen angekommen ist?

Wenn die Protagonisten im Abspann von ihren Beweggründen berichten, an diesem Film mitzuwirken, dann möchte man ihnen wünschen, dieser hätte etwas bewirkt. Nun, fast drei Jahre später, wird der Zuschauer diese Dokumentation nur eben als ein Nachtrag zum jüngsten Zeitgeschehen erleben. Eines allerdings ist sicher: Viel wärmer geworden ist es seitdem nicht.

D 2004, 75 min
Verleih: dok-werk

Genre: Dokumentation

Regie: Alexander Kleider, Daniela Michel

Kinostart: 30.11.06

[ Jane Wegewitz ] Für Jane ist das Kino ein Ort der Ideen, ein Haus der Filmkunst, die in „Licht-Schrift“ von solchen schreibt. Früh lehrten sie dies Arbeiten von Georges Méliès, Friedrich W. Murnau, Marcel Duchamp und Man Ray, Henri-Georges Clouzot, Jean-Luc Godard, Sidney Lumet, Andrei A. Tarkowski, Ingmar Bergman, Sergio Leone, Rainer W. Fassbinder, Margarethe v. Trotta, Aki Kaurismäki und Helke Misselwitz. Letzte nachhaltige Kinoerlebnisse verdankt Jane Gus Van Sant, Jim Jarmusch, Jeff Nichols, Ulrich Seidl, James Benning, Béla Tarr, Volker Koepp, Hubert Sauper, Nikolaus Geyrhalter, Thierry Michel, Christian Petzold und Kim Ki-duk.