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Le Havre

Ein Märchen aus der Feder des letzten großen Humanisten des Kinos

Schon dieses erste Bild: Zwei Gestrandete am kaum Willkommensgrüße ausstoßenden, durch die Zeit verschlissenen Bahnhof von Le Havre. Einer von ihnen der abgehalfterte Ex-Poet und Noch-immer-etwas-Bohemien Marcel. Er verdingt sich als Schuhputzer, manchmal geduldet, meistens verjagt. Doch wie Marcel den Anzug trägt, an Zigaretten zieht, den obligatorischen Weißwein trinkt – all das hat immer noch Klasse. Aki Kaurismäki läßt seine Helden mit Würde durch die Bescheidenheit stolzieren: Der Kapitalismus mag stinken und die Menschen verbiegen, Rückgrat leistet sich mancher trotz alledem.

Kaurismäki, dieser kratzkehlige Barde schräg-schroffer Nordlichtballaden, erweitert sein Repertoire an kampfesfreudigen Hymnen auf den einfachen Menschen um eine Geschichte, die seit zu langer Zeit an Aktualität nichts eingebüßt hat: die Geschichte einer Flucht. Marcel trifft auf Idrissa, ein afrikanischer Junge, der den Flics entkommen konnte. Dabei hat Marcel schon genug Sorgen: Seine Frau Arletty ist im Krankenhaus mit geradezu hoffnungsloser Diagnose, die Einkünfte reichen geradeso für einen, und dennoch nimmt er sich des Jungen an und versteckt ihn auch vor Kommissar Monet.

Dieser Auftakt leitet einen Wandel ein – der LE HAVRE, durchaus dem Neorealismus verpflichtet, einen märchenhaften Anstrich verleiht. Plötzlich muß Marcel die Baguettes nicht mehr anschreiben lassen, das Gemüse nicht mehr stehlen, die Nachbarschaft weiß um sein Geheimnis und übt sich in – ja, altmodisch, aber niemals ausgedient – Solidarität. Dafür wählt Kaurismäki eine eigenwillige Sprache, in der die Sätze wie vorgetragen und dennoch nicht theaterhaft scheinen. Eine bewußte „Distanz“ zum echten Leben, weil Kaurismäki eben nicht zum Agit-Propfilmer taugt. Vielmehr entpuppt er sich als der letzte große Humanist des Kinos. Er bringt Licht, Wärme und Zusammenhalt auf die Leinwand zurück, untersetzt dies mit pointiertem Humor, weshalb sich seine unbeugsamen Helden in dieser grauen Stadt dann auch in einem Café namens „La moderne“ treffen. Weil zu jedem Märchen auch ein Bösewicht gehört, der nicht der zweifelnde Monet sein wird, entspinnt Kaurismäki einen sinisteren Nachbarn im hellen Trenchcoat, der Marcel und Indrissa anschwärzt. Dieser schmierige Denunziant wird übrigens von Jean-Pierre Léaud gegeben, Anlaß also, einige Sätze zum Rest des Ensembles zu sagen. Kaurismäki hat mit André Wilms als Marcel und Jean-Pierre Darroussin als dessen Konterpart Monet zwei Charakterköpfe besetzt, die sich im Leben „weggucken“ würden, auf der Leinwand aber unersetzbar einer Geschichte ihr Gesicht verleihen. Ihnen wurde die spröde Kaurismäki-Gefährtin Kati Outinen an die Seite gestellt, die uneitel die kranke Arletty ganz ohne Larmoyanz mit einer geradezu Brechtschen Grandezza gibt.

Ohne ins Jammern zu geraten über all die Schwätzer, die das moderne Kino zunehmend belagern: Kaurismäki ist tatsächlich einer der wenigen zeitgenössischen Regisseure, die vom Filmemachen etwas verstehen. Wie er Erzähl-ebenen miteinander verflicht, wie er Anrührendes mit einem Augenzwinkern verknüpft, wie er Gesichter nur halb beleuchtet, die Musik dabei hochfährt, das sind auch schon Reminiszenzen an das Kino des guten alten Hollywoods. Oder wie er seine Figuren in alte Trenchcoats unter ganz gut erhaltene, aber ebenso betagte Hüte steckt, sie in museal anmutenden Autos fahren läßt, und daß dabei trotzdem nichts muffig wirkt – das ist das Besondere am Kino des trinkfesten Finnen. Toll, wie er es vermag, die verschiedenen Welten zu verknüpfen – dieses trost- und zeitlose Le Havre, Refugium der Kartenspieler, Biertrinker, Augenringeträger und Hundeliebhaber, mit der des entwurzelten Indrissa. Daß diese Welten in der Not und dann mit Selbstverständlichkeit zusammenrücken, ist einer der Träume Kaurismäkis.

So etwas erfordert einen phantasiebegabten Erzähler, denn Le Havre mag am Meer liegen, als Tor zur Welt taugt es kaum. Und daß es trotzdem glänzt, dafür braucht Kaurismäki „nur“ offene Herzen, ein gelbes Kleid, ein Charity-Konzert. Und ein kleines, großes Wunder. Wie dieser Film eines ist ...

Originaltitel: LE HAVRE

F/Finnland/D 2011, 93 min
FSK 0
Verleih: Pandora

Genre: Tragikomödie, Poesie

Darsteller: André Wilms, Jean-Pierre Darroussin, Kati Outinen, Blondin Miguel, Jean-Pierre Léaud

Regie: Aki Kaurismäki

Kinostart: 08.09.11

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.