Originaltitel: LIVING

GB 2022, 103 min
FSK 6
Verleih: Sony

Genre: Drama

Darsteller: Bill Nighy, Alex Sharp, Aimee Lou Wood, Oliver Chris

Regie: Oliver Hermanus

Kinostart: 18.05.23

4 Bewertungen

Living

Tatsächlich … Leben

Vorab wohl nötigerweise angemerkt: Bei LIVING handelt sich’s um ein Remake des Akira-Kurosawa-Klassikers IKIRU, und selbstredend ist das Original besser, gar unerreicht, diese Neuinterpretation daher per se regelrecht schändlich. Total egal, daß IKIRU über sieben Dekaden auf dem zweifelsfrei ehrwürdigen Buckel trägt und für nicht filmhistorisch tieftauchende Kinogänger, ergo größte Teile des zahlenden Publikums, keine (echte) Relevanz besitzt. Hätten wir das also hauptsächlich den vollautomatisiert naserümpfenden Kollegen zuliebe abgehakt, konzentrieren wir uns aufs Jetzt. Nämlich LIVING. Und gleich apropos Schande: Absolut unverständlich, warum Bill Nighy während über 40 Jahren Karriere nie eine OSCAR-Nominierung erhielt. Späte Genugtuung, daß es nun geschah. Hochverdient.

Er – wortwörtlich – verkörpert Mr. Williams, Chef des unentwegt durchs Grünflächenamt genervten Bauamtes. Die im London der 50er angesiedelte Zeitverortung bewirkt üppige Ausstattung, melancholisch-nostalgisches Flair, dicke Zigarettenrauschschwaden, die Illustration einer Welt ohne Scherze am Morgen (oder eigentlich allgemein, wie’s scheint) und Vornamen. Ansonsten kennt man jenen Typus heute noch: extrem korrekt, strengstens regelkonform, stets ausbruchssicher. Bezieht auf Arbeit ein unvermeidbares Maß an minimalinvasiver sozialer Interaktion. Verdammt müde; verirrte Akten werden, dem schleichenden Vergammeln preisgegeben, einfach abgelegt: „Macht ja keine Umstände.“ Nighy mimt Mr. Williams, mittels weniger Satzfetzen als Witwer enttarnt, adäquat immer bestmöglich beherrscht, kaum eine Regung kräuselt das Einheitsgesicht. Freude entäußert sich nur sehr selten, etwa, wenn die grundgenervte Schwiegertochter zum Abendessen lecker kocht. Hier allerdings massiv: „Oh. Shepherd’s Pie.“ Ganz ähnliche Gefühlsgewalt tobt bei der Diagnose Krebs. Sechs Monate bleiben, eventuell acht.

Offenbar geht’s folgend ums Erwachen, Nachholen, den Sturz in nächtliche Lockungen und schöne Café-Nachmittage mit Ms. Harris, einer jungen Angestellten, zudem versuchte Rührung des Publikums. Für Letzteres spricht oft arg penetrant klimperndes Klavier ebenso wie ein zu ausgewalzter und -gestellter Epilog nach Williams’ unausweichlichem Tod. Wer indes aufmerksam las, dem geriet der Hinweis „offenbar“ zum mentalen Stolperstein. Denn tatsächlich vermeidet die Regie zu triefigen Schmalz, was wirklich trifft, sind nicht die erwähnten Piano-Attacken, der genannte pathetische Pflock, eingehauen in Erinnerungserden, oder das blutig gehustete Taschentuch. Auch bloß bedingt Nighys sehnsüchtiges Singen eines alten schottischen Liedes, Ms. Harris’ Verzückung angesichts eines spendierten Eisbechers (Früchte und Nüsse drauf!). Nein, richtig ans Gemüt packt ein erst angedeutetes, dann schüchternes, schließlich herzliches Lächeln, für das allein man Nighy jeden existierenden Preis verleihen mag. Er verstand, wovon erzählt wird: lediglich sekundär dem – konsequent uninszenierten – Dahinscheiden seiner Figur, vielmehr deren Vergangenheit. Welche das profunde Porträt eines zerstörerisch genügsamen Mannes schöpft, alles erduldend, keinerlei Ansprüche stellend, Forderungen als schlechten Stil, eingebüßte Haltung verstehend. Hörte ihm, außer vielleicht und hoffentlich die verlorene Gattin, irgendjemand interessiert zu? Jemals? Solche ewig universelle Charakterfrage macht berechtigte Kritikpunkte vergessen, setzt geistige Kerben über handwerklich Bemerkenswertes – häufiges Bildreflektieren in Spiegeln, farbentleert am Zugfenster vorbeiziehende Landschaft – hinaus.

Mr. Williams hinterläßt einen Sohn und dessen Frau, jedoch wichtiger: einen Spielplatz. In das dort tönende fröhliche Kinderlachen mischt sich final nicht die Klage um ein endendes Leben. Sondern ein weitgehend ungelebtes.

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...