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Oh Boy

Lässig, augenzwinkernd und mit Gefühl – so geht deutsches Kino!

Ein Titel wie ein Seufzer! Und damit kommt dieser feine Film gerade zur rechten Zeit, denn mit Verlaub – die Welt ist am Verkommen. Behörden machen einem lustvoll das Leben schwer, geradeso, als säßen da schlechtgekleidete Elektronikbausteine, die mal belehrend, mal gönnerhaft ihr Gegenüber automatisiert beschallen und wie Nummern behandeln. Dann ist da dieser nicht mehr wegzuhörende Lärm, diese Krawalligkeit des Pöbels, der sich gottlob um Klassen nicht mehr schert, um andere als sich selbst aber auch nicht. Nicht zu vergessen diese wachsende Schar von Supi!-Sagern und Biomüsli-Terroristen.

Da kann man manchmal nur staunen und seufzen – wie Niko eben. Der ist an sich ein ganz anständiger Kerl, geht den Leuten nicht auf den Sack, dreht nicht völlig am Sender, obwohl er selbst am besten weiß, daß bei ihm im Moment einiges schief läuft. Das Studium träumt in der Warteschleife, den Führerschein kann er durch Amtswillkür beim Idiotentest ebenfalls abhaken, und richtigen Kaffee gibt es in der Stadt auch nicht mehr. Das ist die Kurzfassung. Dabei belassen wir es fast, denn den Rest dieses in schniekem Schwarzweiß gehaltenen und mit lässigem Jazz untermalten Films von Jan-Ole Gerster gilt es selbst zu entdecken. Im Kino, denn da gehört er hin: Weil die Geschichte kräftig genug ist, um sich von der TV-Hörigkeit, die den deutschen Film oft genug auszeichnet, zu emanzipieren, weil OH BOY endlich mal einen Typen aus der Krisengeneration der Endzwanziger porträtiert, der eben nicht selbstbesoffen auf dicke Hose macht, sondern einen, der eher still, beiläufig und durchaus mit selbstironischem Touch mitkriegt, daß er sicher nicht der Nabel der Welt ist und Berlin sowieso nur ein aufgeblasenes Kaff.

Entspannt, mit tollem Witz, erstklassigen Dialogen und mit teils herrlich skurrilen Figuren ist OH BOY wirklich auf leisen Füßen zu einem Porträt einer unfertigen Generation und gleichsam Ode auf und Abrechnung mit einer noch immer zerrissenen Stadt geworden. Und es tut gut, einen Typen wie Niko kennenzulernen, der nicht alles hinnimmt, der sich noch wundert, wenn man im Restaurant nur auf Englisch bestellen kann, und der sich an diesen hohlen, feucht gegelten Latte-Moccacino-Typen stört. Niko wird wunderbar ambivalent und in manchem Moment geradezu anrührend von Tom Schilling gespielt – als ein junger Mann im Zweifel, keiner von denen, die auf sich stellende Fragen die Antworten ohnehin schon kennen.

Es erstaunt schon, mit welcher Versiertheit, Stringenz und noch dazu mit allerhand Gespür für das Timing eines echten Lachers dieser junge Regisseur sein Debüt gestaltet. Kein Flachwasser, kein blödes Berlin-Klischee, kein Kalauer, nichts tausendfach Gesehenes – und das muß man erst einmal hinkriegen, wenn man wie nebenher von Golf spielenden Erfolgsvätern, Karten schluckenden Geldautomaten, Kaugummi totbeißendem und durchtätowiertem Servicepersonal und der berühmten Bulette erzählt!

Und noch einmal kurz auf Anfang: Die „Unterhaltung“ zwischen Niko und dem abartigen Psychologen bei der MPU – die gehört wirklich in jedes Drehbuchseminar! Die herrliche Film-im-Film-Sequenz vom Set eines saublöden Nazifilmdrehs gleich mit. Jan-Ole Gerster hat ein gutes Gespür für Balance, schon deshalb gelang ihm die Begegnung Nikos mit einem von Michael Gwisdek herzrührend gespielten Schicksalsgebeutelten nicht wie drangepappt, sondern als Erklärung dafür, warum die Zeiten vielleicht schon immer komisch waren.

So bleibt nun noch zu hoffen, daß das Leben Niko allenfalls so viel zumutet, daß er nicht unter die Räder kommt, und sein Porträtist Gerster deshalb in ein paar Jahren ein augenzwinkerndes OH MAN weiterspinnt ...

D 2012, 85 min
FSK 12
Verleih: X Verleih

Genre: Tragikomödie, Erwachsenwerden

Darsteller: Tom Schilling, Michael Gwisdek, Marc Hosemann, Ulrich Noethen, Justus von Dohnányi, Frederic Lau

Regie: Jan-Ole Gerster

Kinostart: 01.11.12

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.