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Pandora’s Box

Eine Familiengeschichte und die Schönheit einer Filmsprache

Die alte Nusret ist verschwunden. Ganz plötzlich. Deren drei Kinder machen sich auf aus der großen Stadt, in der sie leben, zurück ins kleine Bergdorf, in dem sie aufwuchsen, um ihre Mutter zu suchen. Nesrin, Güzin und Mehmet – zwei Schwestern, ein Bruder, Geschwister, wie sie verschiedener nicht sein könnten. Jeder eingesponnen in sein Leben, seine Probleme, Vorstellungen und Gepflogenheiten. Jetzt eine Zwangsgemeinschaft, die schnell zur Belastung wird. Eine Belastung, die auch nicht endet, als man Nusret gefunden hat. Im Wald, durch den sie tagelang irrte. Nusret hat Alzheimer, Nusret braucht Pflege, sie soll in ein Heim. Die Kinder nehmen die Alte mit zu sich in die Stadt.

Schon ihre zwei Filme REISE ZUR SONNE und WAITING FOR THE CLOUDS waren eindrückliche Studien in Stille und Genauigkeit. Mit PANDORA’S BOX schließt Yesim Ustaog˘lu daran nahtlos an. Schon die ersten Bilder dimmen den Erzählpuls auf ein Minimum: Ein langsamer Kameraschwenk über eine Berglandschaft hin zu Nusrets einsamem Haus. Die Alte dort bei ihren Alltagsverrichtungen, die sie plötzlich, wie einer Einflüsterung folgend, unterbricht. Kurz darauf ist Nusret verschwunden. Nächste Szene, nächstes Bild: wieder ein langsamer Kameraschwenk, jetzt über das Meer, hin zu einem Großstadthafen. Hier verbringt Murat lungernd und kiffend seine Tage. Murat, der Enkel Nusrets.

Womit die Erzählpole dieser Familengeschichte exponiert sind. Die Alte und der Junge. Die Vergangenheit, die ins Vergessen taumelt, und die Zukunft, die im Nebel liegt, die sich nicht zu erkennen gibt. Dazwischen Szenarien sich entfremdender Menschen in einer den Halt verlierenden Moderne. Das ist nicht klagend erzählt und anklagend schon gar nicht. Da wird auch kein archaisch-ländliches Gegenkonzept zum sinnentleerten Großstadtleben installiert. So simpel funktioniert Ustaog˘lus Geschichte nicht, die nicht geradlinig vom Anfang zum Ende hin, sondern in einer Kreisbewegung gezeichnet ist. Eine Kreisbewegung, die sich erst zum Schluß als solche zu erkennen gibt – wenn die Alte und der Junge nach gemeinsamer Stadtflucht für ein paar letzte stille Tage in Nusrets Haus leben.

Langsam, still, genau – die Schönheit einer Filmsprache, die es wiederzuentdecken gilt. Für die man sich öffnen muß. Wobei hier vor allem eine Schauspielerin hilft: Die 1918 geborene Französin Tsilla Chelton (manchem vielleicht noch als TANTE DANIELLE in Erinnerung) zeigt als Nusret, was es heißt, eine Rolle zu verkörpern. Ein Spiel, ein Gesicht, das man nicht mehr vergessen wird.

Originaltitel: PANDORANIN KUTUSU

D/F/Türkei 2008, 112 min
Verleih: Kairos

Genre: Drama, Poesie

Darsteller: Tsilla Chelton, Onur Ünsal, Derya Alabora

Regie: Yesim Ustaog˘lu

Kinostart: 29.07.10

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.