Originaltitel: LES PASSAGERS DE LA NUIT

F 2022, 111 min
FSK 12
Verleih: Eksystent

Genre: Drama

Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Quito Rayon Richter, Noée Abita, Emmanuelle Béart, Megan Northam

Regie: Mikhäel Hers

Kinostart: 05.01.23

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Passagiere der Nacht

Das tiefe Hauchen von Charlotte

Alles so blaß hier! Und die Pullover, Hosen, das ewige Gerauche! Klarer Fall von 80er. Um das zu bemerken, braucht es nicht die Archivaufnahmen vom Pariser Straßenjubel über die erste linke Präsidentschaft seit Ewigkeiten. 1981, mit der Wahl François Mitterrands, beginnen die PASSAGIERE DER NACHT ihr knapp zwei Stunden währendes, so urfranzösisches Eigenleben. Mehr als eine Wahlperiode lang werden wir mit ihnen sein, und die Betonung liegt tatsächlich auf „mit ihnen.“ „Beobachten“ wäre zu kurz gegriffen, „dabei sein“ zu simpel. Spätestens seit DIESES SOMMERGEFÜHL und MEIN LEBEN MIT AMANDA bittet uns Mikhaël Hers zur Nähe.

Der Betrachter solle ein „instinktives, natürliches Verhältnis“ zu seinen Werken entwickeln. Wie ein Lied sollen sie sich anfühlen, und die Rückblende in die 80er beschwöre kein verlorenes Paradies herauf, es sei nur ein Film, der in den 80ern spielt, keiner über dieses Jahrzehnt. Melancholie, voilà! Nostalgie, non! Ginge es nach Verzicht auf Hatz und Hysterie, dafür um beiläufig anmutende Präzision im Inszenieren von und zärtliche Blicke auf Alltag, müßten schon ganze Hers-Scharen hinter diesem Regisseur stehen.

Elisabeth zerfällt in Einzelteile. Langjährig war ihre Ehe, wie man so sagt, gerade hat sie sich pulverisiert. Matthias und Judith, zwei bald oder schon volljährige Kinder, und ein lichtdurchflutetes Appartement sind das Beste, das der Endvierzigerin geblieben ist. Gearbeitet hat sie nie wirklich, wie ihr Vater sagt und sich flugs darauf entschuldigt. Doch es ist ja wahr. Daß Tochter und Sohn aufrecht im Leben stehen und sich, trotz frotzelnder Reibereien, zu Maman hingezogen fühlen, ist keine Behauptung. Es liegt an der Zeit davor. Sie war gut.

Jetzt aber liegt der Bruch in Elisabeths Stimme. Es ist Charlotte Gainsbourgs Stimme, und wer sie je hauchen hörte, wird wissen, welche tiefen Dimensionen dahinter lauern können. Auch Gainsbourgs Elisabeth wird sich an die Hand nehmen und rausgehen, nicht groß klagen, sondern Wege suchen. Später im Film, als ihr klar wird, daß es pure Verschwendung war, nur einen Mann geliebt zu haben, als sie sich endlich wieder für Küsse und Berührung öffnen kann, möchte man ihr ein triumphierendes „Schön!“ entgegenjubeln.

Bis dahin legt PASSAGIERE DER NACHT ein sanftes Netz um die Figuren, ohne sie am Bewegen zu hindern. Auch Matthias, der schreibend mit den Sätzen ringt, wird sich verlieben – und zwar unsterblich – in Talulah mit den großen Augen, eine junge Frau, die von der Straße kommt, sich die Dämonen wegzustechen versucht und in dieser Familie im Grunde alles finden könnte, was sie sucht. Doch es kann schon Angst machen, dieses Finden. Judith wird in eine erste WG ziehen und nicht vergessen, wo sie hergekommen ist. Kinder müssen nicht aggressiv gegen ihre Eltern rebellieren, wer, bitte, hat uns das eigentlich eingeredet? Manchmal genügt als Beweis nur eine nächtliche Fahrt auf dem Moped durch Paris, vorn der Sohn, auf dem Sozius die Mutter, und ja, sie darf sich beim Loslassen festklammern.

PASSAGIERE DER NACHT zeigt, ähnlich wie DIE MAGNETISCHEN von Vincent Maël Cardona, neben diesem herangezoomten Gefühl für die 80er-Jahre, die Verehrung des Mediums Radio, denn der Titel entstammt einer nächtlichen Sendung im Äther, gewidmet den Fernfahrern, erfolgreich bei den Hiergebliebenen. Elisabeth wird dort im holzgetäfelten Studio eine zwar mies bezahlte, aber zum Lebensanker taugende Anstellung finden.

Hier trifft sie auch Talulah, die ihrerseits eine noch schwer in eigene Worte zu fassende Zuneigung zum Cinéma entdeckt, dort, wo man sich so schön verlieren kann.

Und was für ein herrliches Mißgeschick ist das denn? Zu dritt mit Matthias und Judith will Talulah in die GREMLINS und landet ... bei Éric Rohmer. Mit Folgen, auch für Hers’ Film. Denn unweigerlich erinnert sich der in die Jahre gekommene Zuschauer an trikolorierte Erzähltraditionen, an leises, starkes Kino, das Generationen umspannt und trifft. Es ist längst in den 2020ern angekommen.

[ Andreas Körner ]