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Verzeihung, ich lebe

Bilder der verlorenen Erinnerung

Ausgediente Reisekoffer, eingedellt und ohne Inhalt, wurden aufgetürmt und mit Licht in Szene gesetzt. Ein Kunstwerk? Ein Haufen verlorene Erinnerung. Endstation Auschwitz, zumindest für so viele. Und die wenigen, die es überstanden, ringen bis zum Ende um ein Leben, das sie nie gehabt haben. In den Koffern aus Auschwitz befanden sich auch rund 2400 Fotos, die bei genauer Recherche ins polnische Bedzin führten. Sie ermöglichten es, einigen Menschen zumindest ein Gesicht wiederzugeben, Biographien aufzuspüren und das Leben einer gewöhnlichen jüdischen Gemeinde nachzuzeichnen.

Ein Klassenfoto aus dieser Sammlung ist der Ausgangspunkt für Andrzej Klamts und Marek Pelcs behutsamen Dokumentarfilm, der allen Tendenzen zum Infotainment widersteht. Wohltuend wird auf einen Kommentar oder ergänzende historische Aufnahmen von den Kriegsgreueln, wie sie im Fernsehen schon lange inflationär gebraucht werden, verzichtet und schlichtweg auf die Erinnerungen auslösende Kraft der Fotographien gesetzt. Der Zuschauer lauscht den ganz individuellen und doch typischen Geschichten einer Hand voll Personen, die alle in Bedzin geboren wurden und heute in Tel Aviv leben. Er sieht Bilder von damals, Bilder von heute, aus Bedzin und Tel Aviv, und wo er auf den fehlenden Zusammenhang dieser Bilder stößt, hilft ihm seine eigene Lebenserfahrung aus.

Wie so oft sind es die ganz unschuldigen und alltäglichen Geschichten, die einen starken Eindruck hinterlassen. "Diese Welt war ein Trugbild, wie ein Wunschtraum, der nicht Wirklichkeit werden konnte", sagt einer der Protagonisten, nachdem er vom ersten Wochenendausflug mit seiner zukünftigen Braut erzählte, an dem er sie brav nicht anrührte. Ein anderer lebte nach dem Abitur einen Augenblick sorglos auf Kosten seiner Eltern zusammen mit Freunden in den Tag hinein. Kurz darauf war er Widerstandskämpfer.

Was ist wirklich? Diese Frage zieht sich durch die bestechend ehrlichen Berichte, wenn es um die unbeschreibliche Realität in den Lagern geht oder darum, daß in Israel lange nicht über das Erlebte gesprochen wurde, als wäre es nie geschehen. Zerrissene Biographien. Und doch: Die, die leben und die, die nicht leben, rücken auf dem Klassenfoto noch einmal ganz nah zusammen.

D/Polen 2000, 81 min
Verleih: Basis

Genre: Dokumentation, Schicksal

Regie: Andrzej Klamt

Kinostart: 11.01.07

[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...