Originaltitel: THE SENSE OF AN ENDING

GB 2017, 108 min
FSK 0
Verleih: Wild Bunch

Genre: Literaturverfilmung, Drama

Darsteller: Jim Broadbent, Charlotte Rampling, Harriet Walter, Emily Mortimer, Matthew Goode

Regie: Ritesh Batra

Kinostart: 14.06.18

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Vom Ende einer Geschichte

Die Leichen der Zeit

Auf die Frage, wovon Julian Barnes’ Roman „Vom Ende einer Geschichte“ handelt, gibt es mindestens zwei richtige Antworten: eine aus dem Gedächtnis heraufbeschworene Jugend im England der 60er Jahre, in der sich alles um Sex und Camus drehte, obwohl man von beidem noch nicht viel verstand. Oder: ein Prosamonolog über den fiktionalen Charakter von Vergangenheit, weil man sie sich immer als genau die Geschichte erzählt, die man hören möchte … Barnes’ schmales Bändchen wird beim Mitdenken komplexer. Eine Verfilmung sollte also zum Mitwachsen fähig sein. Und sie müßte einem Text, der bezweifelt, daß man sich vom eigenen Selbst, ganz zu schweigen von einem anderen Selbst, ein belastbares Bild machen kann, ausgerechnet mit Bildern gerecht werden.

Der indische Regisseur Ritesh Batra traute sich das zu. In seiner mit ein paar erzählerischen Zusätzen „aufgefüllten“ Adaption kommt nun mehr Gemüse zum Fleisch, aber auch mehr festgetretener Boden ins Bodenlose. Es geht also, anders als bei Barnes, ziemlich geradeaus: Tony Webster, Vater einer Tochter, die ihn demnächst zum Großvater machen wird, betreibt in London einen kleinen Gebrauchthandel für Leica-Kameras. Im Alter ist er ein wenig schrullig geworden, lebt ansonsten unauffällig und halbwegs zufrieden. Daß ihm jetzt eine Mrs. Ford irgendwelche Dokumente hinterlassen hat, bringt ihn ins Grübeln. Wer war das nochmal? Richtig, die Mutter von Veronica. Seit 50 Jahren hat er an die beiden nicht mehr gedacht. Der kuriose Erbfall läßt weitere Namen durch Tonys Kopf kreisen: dieser Schulfreund Adrien, der schon lange tot ist, oder dieser Typ aus der Nachbarklasse, der auch Suizid beging. Und immer wieder Veronica, obwohl das Ganze damals noch nicht einmal ein Jahr dauerte.

Welcher Name zu welcher Sache gehört, welcher Selbstmord zu welcher Kränkung, welches Bild zu welcher Bedeutung, welche Erkenntnis in welche Zeit? Im Roman ist das ein sich Irren, ein sich Korrigieren. Im Film wird daraus eine etwas bemühte Rückblendenstruktur, die aus Tonys Londoner Gegenwart in seine Jugend führt und wieder zurück und wieder nach vorn. Der beunruhigend unprätentiöse Tonfall der Vorlage, ihre gesteuerte Zufälligkeit, ihre Trugbilder und das Erschrecken, wenn sie sich enthüllen – alles ist da. Aber es will und will nicht zu dem aufreibenden Gedanken-Thriller werden, der es hätte sein können.

[ Sylvia Görke ]