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Waste Land

Der Müll, das Leben, das Sterben und die Kunst

Hingesunken über den Wannenrand, die Feder in der einen, das Blatt Papier in der anderen Hand auf einer Ablage – so ist er zu sehen, Jean Paul Marat. Und mag die Tinte auch noch nicht trocken, das Blut noch nicht kalt sein – Marat lebt nicht mehr. 1793 malte Jacques-Louis David den „Tod des Marat.“ Gut 217 Jahre später stellt es der brasilianische Künstler Vik Muniz nach. Auf einer gigantischen Mülldeponie vor Rio de Janeiro, die den blumigen Namen Jardim Gramacho trägt. Den Marat gibt jetzt einer jener Catadores genannten Arbeiter, die auf der schon in apokalyptischem Ausmaß wuchernden Deponie den Müll nach Brauchbarem durchwühlen. Wie die unzähligen Geier schwärmen da Männer und Frauen durch ein sich wie im Akkord höher türmendes Gebirge, das der Moloch Rio de Janeiro ausscheidet. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Erschreckend und faszinierend scheint dieser rotierende Kosmos am Rande der Zivilisation und inmitten ihres Mülls auf. Von diesem Müll leben die Catadores, die „Pflücker.“

Vik Muniz brach auf zu ihnen, zu einer Erkundung, die zu einer Installation, zur Kunst werden soll. Begleitet wurde er dabei von der Dokumentarfilmerin Lucie Walker, die ein Porträt fertigte. Von Muniz, vom Jardim Gramacho – und von den Catadores. Da verknüpfen sich bewegende Schicksale und konzentrierte Blicke in Gesichter mit hypnotischen Schwenks über diesen monströsen „Garten“, in dem scheinbar bis zum Horizont und hinauf in den Himmel wächst, was von der Zivilisation eben bleibt – diese gar zu verschlingen scheint. In manchen Momenten schafft das die Dichte eines darwinistischen Irrwitzes. Surreal und plausibel zugleich ist, wie sich darin das Marat-Szenario installiert. WASTE LAND, ein Titel, der sich nicht zuletzt auf T.S. Eliots berühmtes Poem bezieht, fügt so der sozialen Empathie und Menschlichkeit seiner Schilderungen eine Dimension philosophisch-ästhetischer Reflexion hinzu. Eine Bereicherung, die vor bloßem (An-)Klagen wie Voyeurismus bewahrt und diesen Film zu einem Manifest macht für die Würde des Menschen und seine Schönheit. Was ja hier beides im wahrsten Sinne im Abfall gefunden wird.

Und auch, daß die geschilderten Gefahren, etwa durch Müllawinen, die häufig Catadores unter sich begraben, nie zur spekulativen Spannungswürze verkommen, macht WASTE LAND zur gelungensten Doku seit langem, die auch – und im Gegensatz zum Gros der Gattung – ob ihrer formalen Qualität einfach ins Kino gehört.

Originaltitel: WASTE LAND

Brasilien/GB 2010, 99 min
Verleih: Real Fiction

Genre: Dokumentation, Poesie

Regie: Lucie Walker

Kinostart: 26.05.11

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.