Originaltitel: AS BESTAS

Spanien/F 2022, 139 min
FSK 12
Verleih: Prokino

Genre: Tragödie, Drama

Darsteller: Denis Menochet, Marina Fois, Luis Zahera

Regie: Rodrigo Sorogoyen

Kinostart: 14.12.23

10 Bewertungen

Wie wilde Tiere

Empathisch, archaisch, unerbittlich: Ein Film riskiert die Kunst der Tragödie

„Rapa das Bestas“ – das „Scheren der Bestien“ – nennt sich ein archaischer galicischer Brauch: Jedes Jahr, immer zu Beginn des Juli, werden die hoch in den Berghängen streifenden und verwilderten Pferde von „Aloitadores“ genannten Männern hinab ins Tal getrieben, um dort geschoren und markiert, um „gezähmt“ zu werden. WIE WILDE TIERE beginnt mit diesem Ritual. Und das, ohne näher auf dieses einzugehen, es zu erklären, in einem Kontext zu verorten. Stattdessen sieht man in einer einzigen minutenlangen Eröffnungssequenz in Zeitlupe nur zwei Aloitadores, zwei Männer, die sich, gleichsam wie wilde Tiere, mit ihren Körpern an ein galoppierendes Wildpferd hängen, es umklammern, an ihm reißen und es im wahrsten Sinne zu Boden ringen.

Diese Anfangsszene – sie wird später einen grausamen Widerhall finden. So, wie man diese zwei Männer, es sind die Brüder Xan und Lorenzo, bald näher kennenlernen wird, in Rodrigo Sorogoyens WIE WILDE TIERE. Ein Film, der etwas heute Seltenes und geradezu Kühnes riskiert: nämlich, eine Tragödie im elementarsten Sinne zu erzählen. Also in archaischer Klarheit und Strenge und mit all der kathartischen Kraft, die zu diesem Erzählen gehört.

Für Hegel (ja, der muß jetzt mal kurz sein) insistiert das Wesen des Tragischen, zielt die Essenz der Tragödie weit weniger auf das Schicksal irgendeines „tragischen Helden“ als vielmehr auf die Kollision zweier Prinzipien; auf einen Konflikt „nicht zwischen Gut und Böse, sondern zwischen einseitigen Positionen, von denen jede etwas Gutes enthält.“ Das Fatale – das Tragische – daran ist, daß diese Positionen (Prinzipen) nicht verhandelbar, nicht ausgleichbar sind. Und deshalb das Böse geradezu zwangsläufig provozieren.

Das französische Ehepaar Vincent und Olga hat den Bequemlichkeiten, aber auch der Beengtheit der Zivilisation bewußt den Rücken gekehrt und sich auf einem alten Bauernhof in den galicischen Bergen niedergelassen. Zu innerer Ruhe kommen, von der eigenen Hände Arbeit leben, so hart diese Arbeit auch ist; Landwirtschaft betreiben, die einfachen, elementaren Dinge des Lebens wertschätzen: Das ist es, was sich Olga und Vincent ersehnt haben. Und es gelingt den beiden gut. Sie sind glücklich – und vielleicht auch deshalb in dem verarmten spanischen Bergdorf nach all den Jahren, die sie hier schon leben, immer noch die Außenseiter, die Franzosen, die Zugezogenen. Die Fremden. Was sich in aller Härte zeigt, als Vincent und Olga als Einzige im Ort gegen den Bau eines Windparks stimmen. Dessen Errichtung würde für jeden der Dörfler eine finanzielle Entschädigung mit sich bringen – etwas, das gerade auch die Brüder Xan und Lorenzo verdammt gut gebrauchen können. Die Crux: Errichtet werden kann der Windpark nur dann, wenn die Dorfgemeinschaft geschlossen dafür stimmt.

Was Vincent und Olga schon aus Prinzip nicht können. Steht für sie doch so ein Windpark gleich einem Menetekel für all das, dem sie entflohen sind. Etwas, das sich wiederum die Dörfler, allen voran Xan und Lorenzo, ersehnen. Denn was den Einen Zivilisations-Beengung und Entfremdung ist, das ist den Anderen das Versprechen auf etwas Wohlstand, eine Fluchtmöglichkeit aus den sinnlosen Schindereien ihres Daseins.

Zwei Positionen, zwei Prinzipien, zwei konträre Sehnsüchte: Und man versteht beide. Und das auch deshalb, weil WIE WILDE TIERE es souverän zu vermeiden versteht, für irgendeine Position Verständnis zu heischen. Sorogoyen pflegt tatsächlich rigoros den Blick eines echten Tragöden – und dieser Blick ist immer beides: empathisch und unerbittlich.

Unerbittlich ist es dann auch, wie der Konflikt fatale Eigendynamik bekommt und in der Tragödie mündet: Wilde Menschentiere, die sich – jetzt auf Leben und Tod – zu Boden ringen im grausamen Widerhall der Anfangsszene. Nur, daß diese Kulmination dann nicht der Endpunkt der Geschichte ist. Die nämlich wechselt in ihrem letzten, langen Akt die Perspektive. Weg vom männlich-konfrontativen Gruppenbild, hin auf Olga. Und zeigt dabei im Porträt dieser Frau, wo und wie sie wirkt: die Gabe und Kraft zur Katharsis. Großartig!

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.