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Bombay Diaries

Im Mikrokosmos einer Millionenstadt

Ob Kiran Rao wohl auch irgendwann die im „deutschen“ Titel benannten Tagebücher schrieb? Wir wissen es nicht. Fakt ist aber: Rao hat sie gedreht, für vier Personen und eine Stadt. Fein verwoben, voll Traurigkeit. Sehr bunt trotzdem, wie vom indischen Film gewohnt, doch in ziviler Länge und ohne Musical-Ausbrüche. Diese ersetzt ein bemerkenswerter Score des preisverwöhnten Komponisten Gustavo Santaolalla.

Er begleitet vorerst drei Menschen: Fotografin Shai nähert sich mittels Kamera der Heimat ihrer Eltern und verbringt eine Nacht mit Maler Arun, welcher dann nichts mehr von Shai wissen mag. Im Gegensatz zu Munna, einem jungen Mann aus der Unterschicht – er liebt die mondäne Amerikanerin, träumt nebenher von einer Karriere beim Film. Und schließlich wird als kontrastierende Vierte Yasmin eingeflochten, Aruns Vormieterin. Sie hinterließ Videobotschaften für ihren Bruder, aus denen der Künstler emotionale Inspiration zieht.

Jede Figur steht dabei für ein differentes Lebensmodell, zum Beispiel verkörpert Yasmin hilflose, tragisch endende Starre, wogegen Munna den Willen zu Aufbruch und Selbstbestimmung zeigt. Bombay respektive Mumbai wiederum hat allen etwas geschenkt und genommen, woraus Rao ein urbanes Hohelied spinnt. Wie bei echter Zuneigung nötig, akzeptiert sie dabei die Fehler des Gegenparts und gibt ihm manches zurück – unter anderem wunderbare Aufnahmen durch Shais Objektiv, während die Metropole selbst Konflikte, Brüche oder Klassenunterschiede aufscheinen läßt, sich gemeinsam mit den Protagonisten entblättert, im schönen wie häßlichen Sinn.

Fast hingetupft scheinen darin die vier Leben, jeweils auf der Suche nach etwas, unsicher, auch ängstlich. Tiefenwirkung entwickeln neben Yasmins Schicksal primär Munnas Annäherungsversuche, welche Shai nicht erwidern kann, bis sie dieses in solchem Kontext schreckliche Wort nennt: Freunde ...

Rao weiß um Gefühle, findet als Autorin subtile Dialoge und auf dem Regiestuhl zu angenehmer Zurückhaltung. Dennoch gehören die letzten Aufnahmen nicht den Darstellern, sondern Bombay bei Tag und Nacht. Es gibt nun einige gebrochene Herzen mehr, ein paar Bewohner weniger, die Stadt bleibt davon zwangsläufig unbeeindruckt, pulsiert wie immer. Der Zuschauer allerdings erhält von Rao Gelegenheit zum Nachdenken, Vervollständigen, eigenen Weiterschreiben. Ohne vorgefertigte Wortbausteine.

Originaltitel: DHOBI GHAT

Indien 2010, 100 min
Verleih: REM

Genre: Drama, Episodenfilm

Darsteller: Monica Dogra, Aamir Khan, Prateik Babbar, Kriti Malhotra

Stab:
Regie: Kiran Rao
Drehbuch: Kiran Rao

Kinostart: 29.09.11

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...