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Am Kölnberg

„Guten Morgen, Ihr Wichser!“

In Zeiten, da manch’ Eingeborener fürchtet, künftig nur noch von Muezzins geweckt zu werden, klingt dieser gebrüllte Gruß vielleicht beruhigend. Selbst in solch’ einer gespenstischen Wüste. Die liegt in Köln-Meschenich, besteht aus neun Hochhäusern mit über tausend Wohneinheiten und gehört zu jenen verwechselbaren Peripheriearchitekturen, in denen sich ein spezieller Sand sammelt: Sonderexistenzen jedweder Couleur, zu abgebrannt für Innenstadtmieten, gestapelt bis unter den Himmel.

Wie solche Gegenden bei Nacht und Blaulicht aussehen, zeigen die sich immer mehr ähnelnden Reportage-Formate des Fernsehens, das an „sozialen Brennpunkten“ oft gleich mit Polizei und Krankenwagen vorfährt. Die Filmstudenten Laurentia Genske und Robin Humboldt hingegen bestreiten ihre dokumentarische Ortsbegehung nicht mit Brimborium, sondern mit Verstand und Empathie. In dramaturgisch geschickt gebauten und verzahnten Einzelporträts, ganz ohne einschlägige Zuspitzungsstrategien, blicken sie hinter die gerasterten Fassaden, hinein in die Sitzecken von vier Kölnberg-Bewohnern – die dann doch eine Art Normalität leben. So oder so.

Biene, ein mageres Geschöpf, das sich als Crack-Hure vorstellt, spricht über das Anschaffen und kocht – meistens Kokain in Alufolie. Nana, bekannt als „bekloppte Baronin“, ist eben erst eingezogen, weil sie in ihrer Gartenlaube an Leib und Seele zu verlottern drohte. Nun schaut die betagte Dame mit dem extravaganten Geschmack über das Land hinter dem Balkon und denkt an die im Krieg gebliebene schlesische Heimat. Martha, Ex-Halbnacktmodell, zeitweilige Tankstellenpächterin und spätere Knastinsassin, träumt vom Reisen, kann es sich aber nicht leisten. Man trifft sich bei der Essensausgabe der Tafel, wo auch Karl Heinz regelmäßig aufschlägt. Den Alkohol bekommt er woanders.

Die Filmemacher nähern sich den Vieren respektvoll und geduldig. Sie begegnen ihren Protagonisten auf Augenhöhe, jedoch nie naiv. Sie tasten nach biographischen Brüchen, lassen Wirkungen und Ursachen dabei allerdings genauso unsortiert und liederlich gefaltet liegen, wie sich das sonst nur das Leben traut. Kommentar-, aber nie gedankenlos registrieren sie Bierflaschen, zittrige Hände, philosophische Einlassungen, Kölsche Ausgelassenheit – und erzählen vom Scheitern in einer gelingsicheren Gesellschaft, die schon das allein für einen unverschämten Affront halten muß.

D 2014, 89 min
FSK 12
Verleih: Real Fiction

Genre: Dokumentation, Schicksal

Stab:
Regie: Laurentia Genske, Robin Humboldt
Drehbuch: Laurentia Genske, Robin Humboldt
Kamera: Laurentia Genske, Robin Humboldt

Kinostart: 28.05.15

[ Sylvia Görke ]