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Portraits deutscher Alkoholiker

Rausch in nüchterner Form

Wir sehen eine ganz normale Wohnsiedlung mit ganz normalen Reihenhäusern und betreten eines davon. Drinnen: Eine ganz normale Einrichtung, recht geschmackvoll, die obligatorische Anbauwand umzingeln Grünpflanzen. Dann ertönt eine weibliche Stimme aus dem Off. Die dazugehörige Dame berichtet, wie sie sofort nach der Geburt ihres ersten Kindes wieder anfing zu trinken – „... trotz des Stillens, hielt ich aber nicht für weiter bedenklich.“ Man horcht auf.

Schnitt. Industriegebiet. Etwas flapsig konstatiert ein Mann erneut von der Tonspur: „Und ich hab’ gesagt, wenn ich keine Probleme hab’, bin ich kein Alkoholiker, und wenn ich kein Alkoholiker bin, kann ich so viel saufen, wie ich will.“ Auf diese Weise geht es weiter: Sechs Menschen berichten über ihren Hang zum Trinken, werden jedoch nie vor die Kamera gesetzt, um jede kleine mimische Regung minutiös einzufangen, Emotionen visuell festzutackern, vielleicht gar in Nahaufnahme sensationell schmerzliche Bilder zu erhaschen. Sie alle bleiben quasi unsichtbar, anonym, definieren sich über die Stimme. Und gehen dabei aus sich heraus, arbeiten Erfahrungen auf, skizzieren Schicksale, reflektieren, erlauben sich Galgenhumor, während nirgends belehrende Kommentare oder moralische Anmerkungen seitens der Regie zu vernehmen sind. Klarheit und Zurückhaltung stehen hier zum Glück im Vordergrund.

Trotzdem weist das filmische Experiment ungeachtet solcher häufig bedrückenden, oft schonungslosen Offenheit eine Schwäche auf: Unterfüttert werden diese Selbstbekenntnisse durch ruhige, an der Grenze zur Statik rangierende Aufnahmen alltäglichen Lebens inklusive fahrender Züge auf Bahnhöfen, Büroräumen, idyllischer Städtchen. Was daraus folgt, ist durchaus faszinierend – überall lauert der Alkoholismus, wir sprechen von einer „Volkskrankheit“, welche sich hinter Vertrautem versteckt und eben auch deswegen kaum richtige Wahrnehmung erfährt. Das Format zwingt den modernen Zuschauer in eventuell schon verlernte Zuhörer-Position, ringt dem optischen Medium Film eine andere Ebene ab. Zweifellos mutige Vorzüge.

Dennoch können sie nicht verhindern, daß sich auf lange Sicht eine gewisse Beliebigkeit des nur rudimentär mit dem gesprochenen Wort verbundenen Bildes einschleicht, die Anstrengung überwiegt, das Format vom eigentlichen Thema abzulenken droht. Und damit die beabsichtigte Wirkung teils beschneidet.

D 2010, 81 min
Verleih: Fugu

Genre: Dokumentation

Regie: Carolin Schmitz

Kinostart: 15.12.11

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...