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Der Sohn

Und nichts ist mehr, wie es einst war

Man muß es erwähnen: Unter dem simplen Titel brodelt ein stilistisch schlichtes, wortkarges, heimtückisches Meisterwerk, jederzeit dazu bereit, die Krallen auszufahren und unvermittelt aufs Heftigste zuzuschlagen. Anfangs hat es nicht den Anschein – Tischlermeister Olivier verzieht keine Miene, bellt seinen Lehrlingen stoisch Anweisungen zu, hält ohne jede Gefühlsregung einfach die Werkstatt am Laufen. Als sich ein neuer Azubi namens Francis bewirbt, will er ihn nicht einstellen, sondern lieber zu den Schweißern schicken. Trotzdem: Während der schmächtige Junge den Vertrag unterschreibt, steht Olivier hinter der Bürotür, beobachtend, beinahe lauernd.

Am nächsten Tag ändert sich seine Meinung – er will Francis übernehmen. In der Folgezeit sucht der Meister offensichtlich die Nähe des Lehrlings, überwacht ihn auf Schritt und Tritt, wirkt dabei meist väterlich, häufig beschützend, manchmal haßerfüllt. War bislang alles trügerisch still, erfährt man nun den schrecklichen Hintergrund dieses Verhaltens: Olivier, emotional völlig verkrampft, und Francis, der nur mit Medikamenten Schlaf findet, sind durch ein düsteres Geheimnis miteinander verbunden. Das Wissen darum geht unter die Haut, steigert sich bis zum unerträglich Zermürbenden; natürlich ist eine Konfrontation vorbestimmt, werden die Protagonisten einander physisch und psychisch verletzen, brechen sich angestaute Wut und Schmerz Bahn, irgendwann. Doch mit jeder Minute, in welcher dies nicht geschieht, will man zunehmend wegsehen, davonlaufen, was auch Olivier tut, das Unausweichliche nicht ertragen. Weil hier Vergeltung wie so oft gleichbedeutend für Sinnentleertheit steht, selbst dieser Ausbruch, obwohl er vielleicht innere Krusten aufbricht und kurzzeitig befriedigt, keine Lösung zu bringen vermag.

Entsprechend erstarren die letzten Szenen in hoffnungsloser Kälte; das schockierend abrupte, bildkompositorisch brillante Ende ist schließlich ein brutal-zwingender, zutiefst verstörender Hieb in den mentalen Solarplexus. Man kann ihn eventuell verdrängen, aber unmöglich vergessen.

Originaltitel: LE FILS

Belgien/F 2002, 104 min
Verleih: Kairos

Genre: Drama

Darsteller: Olivier Gourmet, Morgan Marinne, Isabella Soupart

Regie: Luc Dardenne, Jean-Pierre Dardenne

Kinostart: 02.10.03

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...