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Die Eleganz der Madame Michel

Zwei humane Igel und ein männlicher Wecker

Madame Michel ist der Typ Mensch, den man, einiges Wohlwollen vorausgesetzt, gerade noch „resolut“ nennen kann: ungepflegt, knurriges Auftreten, hängende Mundwinkel, Übergewicht. Die Witwe schuftet als Concierge eines Pariser Nobelhauses, und weil dort natürlich niemand die Unterschicht wahrnimmt, ahnt kein Mieter, daß in dem vermeintlichen Drachen eine sensible Frau mit Hang zur Literatur wohnt.

Derweil plant Paloma, von Weltschmerz heimgesucht und unter einer Mutter leidend, welche bei der aufopferungsvollen Wohnungspflanzenpflege gern mal die eigene Tochter vergißt, sich an ihrem 12. Geburtstag umzubringen. Alle Vorbereitungen sind getroffen, es gilt bloß noch, die verbleibende Zeit mittels Videokamera zu dokumentieren. Kaum verwunderlich, daß sich diese zwei Außenseiter nicht nur über den Weg laufen, sondern auch annähern werden, oder? Der Dritte im Bunde heißt schließlich Kakuro, ein hinzugezogener Japaner, welcher das Leben von Madame Michel auf den Kopf stellt – denn er interessiert sich für sie.

Es geht nicht um viel und gleichzeitig fast alles, wenn nun Madame Michel langsam aus ihrem schützenden Kokon kriecht, um vielleicht doch das Leben neu zu entdecken, während Paloma begreift, wie widersinnig es ist, sich den Tod zu wünschen. Zugegeben, das mag jetzt exakt so didaktisch klingen, wie es hätte sein können. Doch die Inszenierung vermeidet Allgemeinplätze, umschifft Klischees, setzt auf Wärme und manchmal wirklich urkomischen Humor (Mozart auf der Toilette – ein Knüller!), ohne dabei die traurigen Hintergründe ihrer drei Protagonisten ins Lächerliche zu ziehen. Hier bewahrheitet sich endlich mal, daß gute Komödien auf Dramen fußen. Selbst einige Erweiterungen der Romanvorlage, unter anderem die Wiedergeburt eines Goldfisches, fügen sich ohne Brüche ins Gesamtkonzept ein, bereichern es gar.

Und ganz klar wäre noch jedes einzelne der vielen schauspielerischen Pfunde von Josiane Balasko als auftauende Kratzbürste zu erwähnen: Ein gequälter Blick da, ein so unerwartetes wie bezauberndes Lächeln dort, schon hat Balasko den Zuschauer für sich eingenommen, einen echten Charakter erschaffen. Um so schwerer fällt nach viel zu kurzer Zeit der Abschied von diesem Film, der sich auf leisen Sohlen anschlich, um irgendwo zwischen Herz und Hirn seinen Platz zu finden. Es wurden bereits Tränen im Kinosaal gesichtet ...

Originaltitel: LE HÉRISSON

F/I 2009, 99 min
FSK 12
Verleih: Senator

Genre: Literaturverfilmung, Drama, Komödie

Darsteller: Josiane Balasko, Garancelle Le Guillermic, Togo Igawa, Anne Brochet, Ariane Ascaride

Stab:
Regie: Mona Achache
Drehbuch: Mona Achache

Kinostart: 06.05.10

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...